Den Blaumachern auf der Spur

Der Vorwurf, die deutschen Arbeitnehmer feierten zu häufig krank, ist nicht gerechtfertigt. Eine Kontrollstudie konnte keine Gefälligkeitsatteste der Ärzte ausfindig machen  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Glaubt man den Verlautbarungen von Bundesregierung und Arbeitgeberfunktionären, steht es schlecht um die Arbeitsmoral am „Wirtschaftsstandort Deutschland“: Viele Beschäftigte machten regelmäßig blau, vorzugsweise montags und freitags. Unterstützt würden sie durch ÄrztInnen, die gesunde Versicherte aus Gefälligkeit krank schrieben. Wegen des angeblich massenhaften Mißbrauchs will die Regierung nun die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kürzen und die Kontrollen von PatientInnen und ÄrztInnen ausdehnen. Die Rolle der Gesundheitspolizisten sollen umfangreicher als bisher die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) spielen.

Zufall oder nicht – just in dieser Situation veröffentlicht ein leitender MDK-Arzt Ergebnisse seiner „orientierenden Pilotstudie“ zur Krankschreibung (Das Gesundheitswesen Nr. 58). Wolfgang Seger vom MDK Niedersachsen wertete über einen Zeitraum von sechs Wochen sämtliche Gutachten zu „Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit“ Beschäftigter aus, die seine 44 Dienststellen auf Verlangen niedersächsischer Arbeitgeber im Sommer 1995 erstellt hatten.

Was bei der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme herauskam, paßt nicht zur Bonner Polit-Rhetorik. „Vor und nach Wochenend- bzw. Feiertagen“, bilanziert Seger, „ist keine vermehrte mißbräuchliche Inanspruchnahme der Arbeitsunfähigkeit festzustellen.“ Unzutreffend sei „die häufig in Laienkreisen anzutreffende Behauptung, besonders Frauen würden gerne in eine ungerechtfertigte Arbeitsunfähigkeit flüchten“. Die Mutter, die sich krank schreiben läßt, um Zeit für ihre Kinder abzuknapsen, ist die große Ausnahme. Den behandelnden ÄrztInnen stellt Sozialmediziner Seger ein tadelloses Zeugnis aus: „Nahezu vollkommen“ stimmten die Diagnosen von MDK-GutachterInnen und HausärztInnen überein, bloße Gefälligkeitsatteste seien nicht ausfindig gemacht worden.

Insgesamt bescheinigten die niedersächsischen GutachterInnen 65 Prozent der PatientInnen, sie seien weiterhin nicht arbeitsfähig. Die übrigen 35 Prozent wurden zwar aufgefordert, ihren Arbeitsplatz binnen drei Tagen wieder aufzusuchen. Krankfeierei könne dieser Gruppe aber keineswegs pauschal unterstellt werden. „Eine Vielzahl“ der Wiedergenesenen, sagt Sozialmediziner Seger, sei in den Tagen oder Wochen vor der Begutachtung tatsächlich arbeitsunfähig gewesen.

Die Pilotstudie legt die Interpretation nahe, daß Unternehmen den MDK in den meisten Fällen mißbräuchlich einschalten. Tatsächlich warnt Seger davor, der MDK-Check könne „zur Entfernung mißliebiger Patienten aus dem Betrieb instrumentalisiert werden“. Für solche Befürchtungen spricht nicht nur die Gesetzeslage (siehe Kasten). Erhärtet werden sie auch durch Aussagen der untersuchten Beschäftigten, die sie als Anlaß der Begutachtung nannten: „Aktivität im Betriebsrat“, „Arbeitsprozeß gewonnen“, „Mobbing“ oder „Auflösungsvertrag angeboten, Gehalt nicht überwiesen“.

Im sechswöchigen Erhebungszeitraum bestellten die niedersächsischen MDK-Stellen 314 PatientInnen ein, zur Begutachtung erschienen 201. Warum 36 Prozent der Aufforderung nicht nachgekommen sind, ist unbekannt, die Gründe hat Seger nicht erforscht. Gleichwohl schreibt er im Gesundheitswesen: „Von vermuteten Verhinderungsfällen durch Krankenhausaufnahme, Verkehrsunfälle oder ähnlichem abgesehen, dürften die meisten dieser Patienten ihre Arbeit aufgenommen haben.“

Für die Annahme, schriftliche Einladungen seitens des MDK veranlaßten den Adressaten häufig zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes, haben SozialmedizinerInnen einen Begriff kreiert: „Ankündigungseffekt“. Und genau der sollte nach Segers Empfehlung „noch intensiver genutzt werden“ – um MDK-Ressourcen zu sparen und das Kostenmanagement der Krankengeld- und Lohnfortzahlungen zu unterstützen. Voraussetzung sei allerdings eine verbesserte Begutachtungsanalytik, die den Dienst effektiver und treffsicherer mache. Künftig sollten nur solche PatientInnen geladen werden, „die nach bestimmten Merkmalskombinationen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit aufweisen, daß sie nicht weiter arbeitsunfähig sind“.

Relevante Merkmale könnten Alter, Betriebszugehörigkeit oder Beschäftigungsstatus des Betroffenen sein – und die Erkrankung selbst. Die niedersächsische MDK- Zentrale in Hannover erstellt gegenwärtig einen Katalog, der jeder Diagnosegruppe eine durchschnittliche Arbeitunfähigkeitsdauer zuordnet. „Bei Zweifeln der Arbeitgeber und Überschreiten einer durchschnittlich gerechtfertigten Laufzeit“, so Seger, könnten die Betreffenden künftig maschinell eingeladen werden. Mit solchen Standardbriefen müßten zwei Gruppen besonders früh rechnen: PatientInnen, die psychisch oder an den Atmungsorganen erkrankt sind, werden nach Segers Studie im Durchschnitt nach gut vierzehn Tagen als wieder arbeitsfähig beurteilt. Wer Beschwerden mit Verdauungsorganen oder dem Stütz- und Bewegungsapparat hat, ist in der Regel mindestens sieben Wochen krank.

Die statistisch begründete Überprüfung erkrankter ArbeitnehmerInnen könnte noch eher ansetzen. „Wir haben in einem zweiten Schritt vor“, sagt Seger, „auch den Mitarbeitern der Krankenkassen einen solchen AU- Dauer-Katalog zur Verfügung zu stellen.“ Am Computerbildschirm könnten die Kassen dann selbst diejenigen herausfischen, die bei einer bestimmten Diagnose länger als ihre DurchschnittskollegInnen krank geschrieben sind – und diese Versicherten anschließend zum Medizinischen Dienst einbestellen.

Ob technokratische Leitbilder vom Durchschnittspatienten dem persönlichen Krankheitsbild eines Beschäftigten überhaupt gerecht werden können, ist eine Frage, die zumindest die ArbeitnehmervertreterInnen in den Selbstverwaltungsgremien der Krankenkassen zum Thema machen könnten. Und dazu ein Rezept, das nach Einschätzung des Sozialmediziners Seger zur Senkung des Krankenstandes bestens geeignet ist: „In vielen Fällen hilft es, das Betriebsklima zu verbessern.“