Warnschüsse auf Nordkorea

Südkorea protestiert gegen Grenzverletzung. Dahinter steckt die Angst, bei einer Entspannungspolitik auf der Halbinsel von den Großmächten Japan und USA hintergangen zu werden  ■ Aus Tokio Georg Blume

Aus verständlichen Gründen neigt die südkoreanische Politik zu Trotzreaktionen: Immer dann, wenn sich ein japanischer Würdenträger nicht hinreichend für die Kriegsschuld seines Landes entschuldigt oder ein amerikanischer Emissär sich nicht laut genug über den nordkoreanischen Feind empört, fühlen sich die Politiker in Seoul hintergangen. Schließlich sind es die KoreanerInnen aus der Geschichte gewöhnt, von China und Japan betrogen zu werden.

Aus historischen Erfahrungen resultiert nicht immer die richtige Politik: Am Samstag erklärte der südkoreanische Armeechef Yoon Yong Nam, daß seine Truppen Warnschüsse abgegeben hätten, nachdem sieben nordkoreanische Soldaten am Vortag in die Waffenstillstandszone zwischen Nord und Süd eingedrungen waren. „Wir werden jede weitere Grenzverletzung hart bestrafen“, sagte Yoon. Ähnliche Vorfälle, die das UN- Waffenstillstandsabkommen von 1953 verletzten, hatte die Regierung in Pjöngjang bereits im April provoziert. Nun reagierte der Süden erstmals mit Waffengewalt, auch wenn sie bisher nur symbolisch eingesetzt wurde.

Bei Südkoreas Verbündeten löste das Vorgehen Seouls kaum Bestürzung aus. In Washington spielte ein Regierungssprecher die Angelegenheit als „kleinen Zwischenfall“ herunter. In Tokio sprach Premier Ryutaro Hashimoto von der „Ungeduld Nordkoreas bezüglich der Weigerung Washingtons, in direkte Friedensverhandlungen einzutreten“. Beide Seiten verurteilten indirekt die südkoreanische Reaktion, indem sie sie nicht erwähnten.

Zunehmend mit offener Verärgerung haben Washington und Tokio die Verhärtung der südkoreanischen Politik registriert. Egal, welche Hiobsbotschaften die Welt derzeit aus Pjöngjang erreichen – die südkoreanische Regierung stempelt sie zur Propaganda des Nordens und dramatisiert die militärische Lage. Denn Seoul fürchtet, daß eine Entspannung auf der Halbinsel die Großmächte erneut zum Betrug verleitet.

Nordkorea kämpft ums nackte Überleben

So möchte die südkoreanische Regierung verhindern, daß Nordkorea mit Amerika oder Japan in direkte Verhandlungen tritt, die sich der Kontrolle Seouls entziehen. Ein Präzedenzfall dafür gibt es seit 1994, als Pjöngjang und Washington ein Atom-Abkommen unterzeichneten, mit dem sich Nordkorea für die Einstellung seines vermuteten Atomwaffenprogramms die Lieferung zweier westlicher Atomreaktoren ertrotzte.

Obwohl dieses Abkommen wesentlich zur Krisenentschärfung in der Region beiträgt, wurde es in Seoul als so verletzend bewertet, daß die Wiederholung einer ähnlichen Situation den südkoreanischen Politikern heute mehr Sorge zu bereiten scheint als das Drama, das Nordkorea durchlebt.

Tatsächlich kämpfen die NordkoreanerInnen ums nackte Überleben. Schon im April hatte die von einer Hungersnot bedrängte Regierung in Pjöngjang die Vereinten Nationen um Hilfe ersucht. Vor wenigen Tagen schlug die Ernährungsorganisation der UN (FAO) „dringenden Alarm“. In Pjöngjang warnte der Vertreter der FAO, Trevor Page, vor einer „weitverbreiteten Unterernährung“ und „verheerenden Folgen für große Teile der Bevölkerung“.

Weder in Washington noch in Tokio wurden die Warnungen überhört. Der amerikanische Botschafter in Seoul, James Laney, sprach von „neuen, ernsthaften Risiken“, welche die alte Abschreckungsstrategie gegenüber Nordkorea obsolet erscheinen lasse. Die Abschreckung müsse durch Anreize ergänzt werden, welche Nordkorea zur Kooperation mit dem Westen bewegen könne, sagte Laney – ein kaum überhörbares Plädoyer für rasche Nahrungsmittelhilfe an Pjöngjang.

Ganz ähnlich reagierte Tokio, das wie Washington den inneren Zusammenbruch Nordkoreas als größtes Sicherheitsrisiko der Region betrachtet. Nur in Seoul will die Regierung von den Sorgen nichts wissen. „Auch wenn in Nordkorea eine ernsthafte Lebensmittelknappheit herrscht, droht dort keine Hungersnot wie in Afrika“, sagte ein Regierungsbeamter. Als sich die Vizeaußenminister der USA, Japans und Südkoreas vergangene Woche trafen, gelang es Seoul sogar, die Partner auf seine harte Linie einzuschwören: Keine Hilfe für Pjöngjang lautet die Botschaft. Zuvor hatten Washington und Tokio das Gegenteil gefordert.

So droht die Außen- und Sicherheitspolitik der USA und Japans zum Spielball südkoreanischer Irrationalitäten zu werden, denen weder Tokio noch Washington entgegentritt. Die Warnschüsse vom Wochenende bestätigen die Gefahr: Nicht nur die nordkoreanische Politik ist unkalkulierbar.