Aurora – Agonie des Zentrums

Hafenstädte sind die natürlichen Zentren dieser Welt  ■ Von Fatma Artunkal

Es gibt Städte mit und Städte ohne Zauber. Städte mit Zauber haben etwa gemeinsam: polyglotte Katzen und den Segen des Heiligen Antonius. Natürlich. So können Sie zum Beispiel das, was Sie in Istanbul verloren haben, leicht in Lissabon wiederfinden. Einen Satz. Einen Geschmack. Liebe. Oder das Zentrum der Welt.

Ich fand Aurora. Sie saß im Herzen Lissabons und verkaufte Läppchen. Sie hatte auf der Bank neben sich ordentlich ausgebreitet Läppchen zum Halten von heißen Töpfen, Teemützen, ringförmige Stützen zum Gepäcktragen auf dem Kopf. Winzig und in schwarz gekleidet wäre Aurora vielleicht zu übersehen gewesen, hätte sie nicht diese Sachen bei sich gehabt, deren Farbenfreude in Kontrast zu ihrer Figur stand.

So saß sie da, auf der unbequemen Bank am Park in Principe Real und schaute teilnahmslos dem Verkehr zu: den Straßenbahnen, die aus Richtung Largo do Rato kommend in Richtung Cais do Sodre fuhren, den Autobussen, den Autos, den Menschen. Ab und zu hielt eine Frau, um mit ihr kurz zu plaudern. Ich begriff bald, daß Aurora keine Werbung brauchte, sie hatte ihre Stammkundschaft.

Auch ich war innerhalb der nächsten Viertelstunde zu einer Stammkundin geworden. Die Läppchen bestanden aus dünnen Reststoffstreifen, die umeinander geflochten in Schneckenform gewickelt und genäht waren. Sie glänzten wie Buntglas. Jedes Stück war ein Unikat. Wer weiß, wessen Kleid oder Rock oder Bluse hier als Farbtupfer wiederzufinden war.

Als ich einst vor einem Militärgericht in Istanbul stand, hatte ich genau diesen Gedanken: Werden eines Tages die Talare dieser Richter, ihre Jacken und Krawatten zu einer Geschichte aus dem Mund einer Großmutter, die selbstgemachte Patchworkdecken vorstellt: „Seht Kinder, hier dieser Stoff war der Rock eures Großvaters.“ Damals hatte mir dieser Gedanke sehr geholfen, in meinen Richtern keine ideologischen Kategorien, sondern Menschen zu sehen. Jetzt schaute ich mit umso größerem Stirnrunzeln auf Auroras Läppchen und lächelte. Auch Aurora lächelte. So süß, daß sie plötzlich ihre bunten Läppchen in den Schatten stellte.

Zivilisation ist die Überwindung von Angst

Ich war fasziniert. Sie brauchte mir ihre Geschichte nicht zu erzählen, ich kannte sie auswendig. Es ist die Geschichte von uns allen, die wir vis à vis der Europäisierung unsere Leben auf den Kopf haben stellen müssen. Wie seltsam, daß die sogenannte Europäisierung zu ähnlichen Erscheinungen an den beiden Rändern des Kontinentes geführt hat – in Portugal wie in der Türkei. Seltsam auch deswegen, weil Portugal und die Türkei auf dem Papier so grundverschiedene Eigenschaften haben, beginnend mit – um der Mode zu folgen – der Religion. Dabei sind sie einander so schmerzhaft ähnlich.

Habe ich schmerzhaft gesagt? Ohne zu wissen, was ich damit eigentlich meine. Aber Aurora strahlt es ja aus. Nichts mehr hätte sie sich gewünscht, als weiterhin ohne Angst zu leben, zu beten und für das Wohl ihrer Lieben vorsichtshalber, manchmal auch für Heilige mit dubioser Herkunft – sprich ohne offizielle Anerkennung des Vatikans –, Kerzen anzuzünden. Genau wie meine muslimische Großmutter, die sowohl muslimischen als auch griechisch- orthodoxen Heiligen der Stadt die schönsten Geschenke versprach, um uns Enkelinnen, etwa bei Prüfungen, ein wenig zu unterstützen.

Für meine muslimische Großmutter waren griechisch-orthodoxe Heilige kein Element einer – um wieder modisch zu sein – multikulturellen Gesellschaft, sondern Selbstverständlichkeit. Wie für mich zum Beispiel „Madame Kalyopi“ eine Selbstverständlichkeit war. Madame Kalyopi sah Aurora verblüffend ähnlich, bis auf das Schurrbärtchen vielleicht. Sie nähte wunderschöne Kleider für mich und meine Schwestern. In ihrem Garten stand eine Palme, obligatorisch für Istanbuler Gärten wie auch für die Lissaboner, konnte ich mit Herzklopfen feststellen. Und vor ihrem goldverschnörkelten Spiegel standen Pfauenfedern in einer Vase.

Irgendwo habe ich gelesen, daß Hafenstädte mit Nationalstaaten nicht in Einklang zu bringen seien. Das dort genannte Beispiel war Beirut. Dieser Gedanke ist leicht nachvollziehbar, da Hafenstädte natürliche Zentren dieser Welt sind. So kann mein Kater, den ich im Istanbuler Hafen fand, einen ägyptischen Vater und eine Mutter mit genuesischer Abstammung haben. So kann meine Freundin Arsaluys ihre Katze nach Herzenslust auf armenisch beschimpfen. So kann ich mich mit Lissaboner Katzen auf türkisch verständigen.

Aurora verkörpert den Überlebungskampf des Zentrums. In ihrer Bescheidenheit gleicht sie jenen Marmorbrunnen, die trotz Verfall immer noch eine Wasserquelle für Menschen sind. Natürlich für jene Menschen, die sie sehen können – in einer Welt voller hygienisch abgefüllter Wasserflaschen. Und für jene Menschen, die keine Scheu vor ihnen haben.

Achtung. Fremdboden. Die schlecht, wir gut

Scheu wird anerzogen. Ausgerechnet Gesellschaften, die sich der Überwindung dogmatischen Denkens rühmen, zeigen sich zu meiner großen Verwunderung borniert, wenn es um die Überwindung von Angst geht. Ich beobachte, wie in diesen Gesellschaften immer mehr Schranken aufgestellt werden im Namen des Schutzes vor Gefahr; wie diese Schranken die Individuen immer mehr einengen, und wie das Individuum sich bei eventuellem Überschreiten dieser Schranken immer ängstlicher verhält – aus Angst vor den Gefahren, die jenseits lauern, seien es unsauberes Wasser, schlechte Arbeitsperspektiven oder gar ein Minarett in der Nachbarschaft.

Für mich sind Schranken unverständlich, um nicht zu sagen: lächerlich. Außerdem sind sie ein Widerspruch zur zivilisierten Welt. Denn was ist Zivilisation letzten Endes anderes als Überwindung von Angst. Während ich diese Zeilen schreibe, kursiert in meinem Kopf die Frage, warum ich mich in Portugal, wo ich die Landessprache nicht beherrsche, prompt habe zu Hause fühlen können, wohingegen ich das bei den Deutschen, deren Sprache ich beherrsche, nicht tue – außer natürlich im Kreise einiger lieber Freunde. Ich glaube, das hat mit der Anziehung des Zentrums zu tun. Das Zentrum der Welt ist weder im byzantinischen Meilenstein auf dem Sultanahmet- Platz, noch im Rom, noch sonstwo auf dieser Erde zu finden. Das Zentrum der Welt befindet sich in der Anziehung, durch die die Menschen einander näher kommen. Nur dann, wenn man die Chance bekommt, Auge und Ohr nach dem Modell von Auroras Läppchen zu trainieren, gelingt es, diese Anziehung nicht zu meiden, sondern bewußt zu erleben.

Ich glaube, daran mangelt es in Deutschland. Und abgesehen davon, was der einzelne aus Scheu vor Anziehung an Lebensgenuß vermißt, verliert auch die Gesellschaft an Glaubwürdigkeit in ihrer Selbstdarstellung als das Bollwerk europäischer Zivilisation. Sogar die eigenen Mitglieder müssen davon erst durch den Einsatz des Mittels Angst überzeugt werden: Achtung. Fremdboden. Betreten auf eigene Gefahr. Die schlecht, wir gut. Höchste Zeit, daß Aurora ihre Läppchen und Teemützen exportiert – nördlich der Alpen. Zum gegenseitigen Nutzen.

Die Autorin ist Publizistin und lebt in Istanbul