Meinungsfreiheit ist für Arafat ein Fremdwort

■ Der bekannte Psychiater und Menschenrechtler Iyad Seraj bezeichnet Arafats Regime als „korrupt, diktatorisch und repressiv“ und landet prompt im Gefängnis

Tel Aviv (taz) – Der Psychiater Dr. Iyad Seraj, ein führender Aktivist der palästinensischen Menschenrechtsbewegung und Direktor des Projekts für psychische Gesundheit der Bevölkerung des Gaza-Streifens, ist am Samstag von der palästinensischen Sicherheitspolizei in Gaza verhaftet worden. Mit großer Wahrscheinlichkeit steht Serajs Verhaftung im Zusammenhang mit einem Interview, das der weltbekannte Psychiater dem US-amerikanischen Publizisten Anthony Lewis gewährte.

In dem von der New York Times veröffentlichten Interview wird Jassir Arafats Regime als „korrupt, diktatorisch und repressiv“ bezeichnet. Überall in Gaza herrsche Angst, so Seraj im Interview. „Mit Betrübnis muß ich feststellen, daß ich unter israelischer Besatzung hundertmal freier war“, fügte Seraj hinzu. Amtlich wird Seraj vorgeworfen, falsche Beschuldigungen gegen die palästinensische Selbstverwaltungsbehörde erhoben zu haben.

Nach Angaben der palästinensischen Sicherheitsbehörden wurde Seraj in den vergangenen Tagen im Gefängnis von Gaza verhört. Der oberste Staatsanwalt, Khalid al Kidra, der die Untersuchung gegen Seraj leitet, versprach gegenüber Journalisten eine „rasche Entscheidung darüber, ob Seraj vor Gericht gestellt werden soll“.

Verschiedene Menschenrechts- und Friedensorganisationen im Gaza-Streifen fordern die sofortigen Freilassung des Festgenommenen, „als Ausdruck der Existenz demokratischer Verhältnisse, die Arafat versprochen hat“. Im September des vergangenen Jahres übernahm Seraj die Leitung der selbständigen palästinensischen Kommission für Menschenrechte von der früheren Vorsitzenden Hanan Aschrawi, die jetzt als gewähltes Mitglied des palästinensischen Parlaments andere Aufgaben wahrnimmt.

In dem inkriminierten Interview beklagt Seraj die Stimmung im Gaza-Streifen. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit herrsche vor. Seit Monaten zwinge die israelische Blockade die palästinensische Bevölkerung dazu, ohne Bewegungsfreiheit in ihren Wohngebieten zu verharren, wo hohe Arbeitslosigkeit und Not herrschten.

„Schon lange vor Arafat war ich für Frieden mit den Israelis. Aber Frieden — so wie ich ihn sehe — erfordert Würde. Was wir jetzt haben ist eine totale psychologische Unterwerfung, die schwerer zu ertragen ist als der Krieg“, meint der Psychiater. Er moniert auch, daß er selbst heute nicht mehr wie früher in den israelischen und arabischen Medien zu Wort kommen kann. „Heute werde ich von unserer Presse und unserem TV boykottiert.“

Seraj, der die „massenhaften und willkürlichen Verhaftungen und die systematische Folter“ seitens der neun verschiedenen palästinensischen Sicherheitsorganisationen wiederholt verurteilte, war selbst bereits im vergangenen Dezember vorübergehend in Haft genommen worden, nachdem er sich europäischen Presseleuten gegenüber kritisch über die Menschenrechtslage im Gaza-Streifen geäußert hatte. Amos Wollin