Taiwans Präsident verkündet „Friedensinitiative“

■ Lee will in Peking anklopfen, aber gleichzeitig gegenüber den USA pragmatische Politik machen. Tausende demonstrieren gegen Verrat an der Unabhängigkeit

Tokio (taz) – Selbst zur Stunde des Neubeginns vergessen die TaiwanerInnen nicht, daß zur Demokratie auch Streit gehört. Noch bevor der neugewählte taiwanische Präsident Lee Teng-hui gestern vor 15.000 Stadiongästen seine Antrittsrede halten konnte, zogen 10.000 Demonstranten durch die Hauptstadt Taipeh und warfen dem Präsidenten Verrat an seinen Wählern aus der Unabhängigkeitsbewegung vor. Dem Sieger der ersten freien Präsidentschaftswahlen vom 23. März konnte das nicht die Stimmung verderben. 84 Prozent der in Umfragen auskunftswilligen Bürger weiß Lee derzeit hinter sich. Noch nie schien Taiwan so geeint wie heute – trotz oder gerade wegen des andauernden Streits um die Unabhängigkeit.

Präsident Lee schnitt das Thema nur widerwillig an: Eine volle Unabhängigkeit Taiwans sei „unnötig und unmöglich“, sagte er in Richtung Pekings und des chinatreuen Teils seiner Wählerschaft, fügte aber gegenüber den Anhängern der Unabhängigkeit schnell hinzu, daß Taiwan schon heute ein „souveräner Staat“ sei.

Höhepunkt der ersten Rede Lees als freigewählter Präsident seines Landes war die lang erwartete Verkündung einer „Friedensinitiative“. Sie fiel dann aber weniger spektakulär als erwartet aus: „Ich würde gern eine Friedensreise auf das chinesische Festland unternehmen“, sagte Lee, ohne weitere Vorschläge zur Verbesserung der innerchinesischen Beziehungen zu machen. Zwar hatte der seit 1988 regierende Präsident bisher immer abgelehnt, den Herrschern in Peking seine Aufwartung zu machen, doch ist auch jetzt nicht gesagt, ob ihn dort überhaupt eine Einladung erwartet. Offiziell reagierte Peking gestern nicht auf die Ansprache Lees. Dabei fand sich neben dem wohlwollenden Anliegen einer „Wiedervereinigung im nächsten Jahrhundert“ auch genügend innerchinesischer Zündstoff in den Worten Lees. Insbesondere versprach der Präsident die „Fortsetzung einer pragmatischen Diplomatie“ Taiwans. Darunter versteht er auch Reisen in die USA – eine solche hatte im vergangenen Jahr die chinesischen Drohgebärden gegen Taiwan ausgelöst.

So ist zu erwarten, daß sich die Pekinger Führung Zeit läßt, bevor sie die Politik des neugewählten Präsidenten abschließend bewertet. Ohnehin war es Peking gelungen, der nach der taiwanischen Raketenkrise im März drohenden Isolierung schnell zu entkommen. Der chinesische Außenminister Qian Qichen führte in den letzten Wochen erfolgreiche Gespräche mit Washington und Tokio. Die chinesische Regierung, die mit ihrer Propaganda gegenüber Lee bis zu den Wahlen im März sehr scharf vorgegangen war, hat sich bisher ihrerseits mit Kritik am gewählten Präsidenten zurückgehalten. Georg Blume

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