Mit massiven Warnstreiks machte die Gewerkschaft ÖTV gestern klar, daß sie sich den Bonner Sparplänen nicht kampflos beugen wird. Im Vorfeld der entscheidenden Tarifrunde scheint ein wachsender Teil der Arbeiternehmer bereit, sich dem Durch

Mit massiven Warnstreiks machte die Gewerkschaft ÖTV gestern klar, daß sie sich den Bonner Sparplänen nicht kampflos beugen wird. Im Vorfeld der entscheidenden Tarifrunde scheint ein wachsender Teil der Arbeiternehmer bereit, sich dem Durchmarsch der Koalition aus Kabinett und Kapital entgegenzustellen

Ohne ein faires Angebot „ist Kampf angesagt“

Um kurz nach fünf scheint die Streikfront der Bahn- und BusfahrerInnen in Bochum doch nicht hundertprozentig zu stehen. Zumindest einem Bus der städtischen Verkehrsbetriebe sei er gerade begegnet, sagt ein WDR-Reporter, als er zu dieser frühen Stunde am zentralen Straßenbahndepot eintrifft. Die mit roten Plastikschürzen bewehrten ÖTVler bleiben bei der Nachricht ganz ruhig: „Das war mit Sicherheit keiner von uns!“

Tatsächlich hätte es der quergestellten Busse und Bahnen vor den Toren der städtischen Depots an diesem Morgen wohl nicht bedurft, um für hundertprozentige Ruhe in U-Bahn-Schächten und an den Bushaltestellen zu sorgen. Nicht nur in Bochum. Ganz gleich ob in Köln, Dortmund, Bremen, Braunschweig oder Essen – wo die ÖTV es will, bleiben an diesem Tag alle Räder im Nahverkehr still.

Und nicht nur dort. In Berlin streiken die Beschäftigten der Kinderläden, in Wuppertal, Braunschweig und Potsdam legt die Postgewerkschaft die Briefverteilzentren für Stunden lahm. Millionen von Sendungen können nur verspätet ausgeliefert werden.

Verglichen mit früheren Warnstreiks, da gibt sich Busfahrer Andreas Winkler aus Bochum ganz sicher, „ist die Stimmung bei den Kollegen heute wesentlich angespannter“. Noch am Wochenende hatte Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann den Gewerkschaften vorgehalten, sie träfen mit ihren Demonstrationen und Warnstreiks nicht die Stimmungslage der Arbeitnehmer.

Ob sich diese Hoffnung der Arbeitgeber in den nächsten Wochen erfüllt, steht dahin. Die gestrigen Warnstreiks im öffentlichen Dienst, bei der Post, in Krankenhäusern und Sparkassen, an denen sich allein in Nordrhein- Westfalen weit über 100.000 Menschen beteiligten, deuten jedenfalls in eine andere Richtung.

Nach dem Scheitern der Kanzlerrunde scheint ein wachsender Anteil von Arbeitnehmern bereit, sich dem Durchmarsch der Koalition aus Kabinett und Kapital entgegenzustellen. Eine neue Polarisierung und Mobilisierung bahnt sich an. „Bei einem wirksamen Bündnis für Arbeit“, sagt Karl Friedrich Scheben, Betriebsrat bei den Bochumer Verkehrsbetrieben, „wären wir zu einer Nullrunde bereit gewesen.“ Auf allen Versammlungen im ÖTV-Bereich, so ergänzt ÖTV-Sekretärin Veronika Wahl-Powroslo, sei die Bereitschaft zum Verzicht spürbar gewesen, „wenn die Arbeitgeber als Gegenleistung tatsächlich mehr Arbeitsplätze zugesagt hätten“. Doch nach dem Scheitern der Kanzlerrunde sei diese Chance nun vertan.

Bitter enttäuscht, höhnisch, ja wütend reagieren die Warnstreikenden immer dann, wenn von den Details des Bonner „Sparpakets“ die Rede ist. Nullrunde hier, Abschaffung der Vermögensteuer dort – „das ist eine Sauerei!“ ruft ein Müllwerker, als eine Rednerin die „Umverteilung zugunsten der Reichen“ während der Kundgebung vor dem Bochumer Rathaus anspricht. Und als Klaus Orth, der ÖTV-Bezirksleiter in NRW, verlangt, es müsse „Schluß damit sein, daß man den Reichen das Geld hinterherwirft“, während man die realen Einkommen der abhängig Beschäftigten auf breiter Front nach unten drücke, rühren sich alle Hände der gut dreitausend Demonstranten zum stürmischen Applaus.

Sollten die Arbeitgeber im öffentlichen Dienst tatsächlich auf eine Verlängerung der Arbeitszeit durch Streichung von zwei arbeitsfreien Tagen beharren oder gar die tarifvertraglich geregelte – und noch nicht gekündigte – Lohnfortzahlung im Krankheitsfall antasten, würde die ÖTV keine Sekunde zögern, ihre Mitglieder zum Streik aufzurufen. Das machten viele Sprecher gestern überall in Deutschland klar.

Beim ÖTV-Bezirksleiter in NRW, Klaus Orth, hört sich das in bezug auf die Lohnfortzahlung so an: „Was vor etwa dreißig Jahren durch gewerkschaftlichen Kampf erreicht wurde, werden wir heute auch durch gewerkschaftlichen Kampf verteidigen.“ Die ÖTV werde eine Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst ganz gewiß „nicht zulassen“. Wer auf der Arbeitgeberseite auf eine vermeintliche leere Streikkasse spekuliere, so Orth weiter, begehe einen schweren Fehler, denn „wir sind streikfähig, wenn es darauf ankommt“. Für die Arbeitgeber bestünde bei den Verhandlungen am Mittwoch dieser Woche „die letzte Chance für ein anständiges Angebot“. Wenn das ausbleibe, werde es so bald keine weiteren Verhandlungstermine geben. Orth wörtlich: „Danach ist Kampf angesagt.“

Auch der Verhandlungsführer der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, Christian Zahn, mahnt vor der vierten Tarifrunde Bewegung auf der Arbeitgeberseite an. Mit den Warnstreiks wolle auch seine DAG zeigen, daß sich die Zeit des Pokerns für die Arbeitgeber dem Ende zuneigt. Walter Jakobs, Bochum