NS-Justizgeschichte im Reißwolf

■ Nicht archivwürdig: NS-Strafakten über Schwule werden teilweise vernichtet Von Silke Mertins

Ein Sturm der Empörung von WissenschaftlerInnen und Homosexuellenverbänden ist über das Hamburgische Staatsarchiv und die Justizbehörde hereingebrochen: Wie kann man überhaupt nur in Erwägung ziehen, den einmaligen Hamburger Glücksfall eines fast vollständigen NS-Strafaktenbestands zerstören zu wollen? Der Senat konnte und wollte. Im Rahmen der Überführung der NS-Akten in den Bestand des Staatsarchivs – die Aufbewahrungspflicht war abgelaufen – wurde nach Prüfung der „Archivwürdigkeit“ aussortiert und bei Bedarf dem Reißwolf übergeben. Betroffen sind vor allem Verfahren nach Paragraph 175: Verfolgung von Schwulen. Sie machen den größten Teil des Aktenbestandes aus.

Nur „Bagatell-Delikte“ und Verfahren, in denen keine politische oder Minderheitenverfolgung erkennbar seien, würden nach Einzelfallprüfung vernichtet, hieß es. „Das hat sich als Lüge entpuppt“, so GALierin Sabine Boehlich. Denn jetzt, so geht aus der Antowrt auf eine GAL-Anfrage hervor, gibt der Senat doch zu, daß auch andere Akten, nämlich strafrechtliche Verfolgung nach Paragraph 175, nicht weiter aufbewahrt werden und somit für die wissenschaftliche Forschung für immer verloren sind.

„Die Aussagekraft der Akten ist sehr unterschiedlich: Viele lassen nur ein routinemäßiges Verfahren erkennen“, heißt es in der Senatsantwort. Wo Tatbestand und Urteil stark verkürzt seien, reiche eine beispielhafte Aufbewahrung. Soll heißen: Der Rest wird vernichtet.

Ein Teil der historisch bedeutsamen Akten schwuler Geschichte geht verloren. Gleichzeitig wird ein einzigartig komplettes NS-Justizarchiv zerstört, obwohl heute gar nicht absehbar ist, welchen Erkenntnisinteressen diese Dokumente, selbst „Bagatell-Delikte“, für ForscherInnen des 21. Jahrhunderts haben könnten. Schließlich, so die KritikerInnen, habe sich vor 15 Jahren auch noch niemand für das heute zentrale Thema Alltagsgeschichte interessiert.

Homosexuellenverbände und WissenschaftlerInnen nahmen außerdem mit Befremden zur Kenntnis, daß der Aktenbestand anderer Opfergruppen komplett archiviert wird, während schwule Verfolgungsgeschichte in Teilen Reißwolf-Futter wurde oder werden soll. Der Senat hatte dazu widersprüchliche Angaben gemacht: Zu keiner Strafvorschrift würden die Akten vollständig aufgehoben (Drucksache 15/3981). Und: Die vorgefundenen Akten zu anderen verfolgten Gruppen würden vollständig erhalten (Drucksache 15/5223). „Welche Darstellung ist zutreffend?“, begehrte GALierin Boehlich zu wissen. „Beide“, versucht der Senat die Quadratur des Kreises. Außerdem überträfen die Akten zu Paragraph 175 „in ihrer Häufigkeit die Verfahren anderer Verfolgter erheblich“.

Das aber wollen die Befürworter einer Komplett-Archivierung der rund 70.000 Akten nicht als Grund für eine Teilvernichtung gelten lassen. „Von Anfang an war das wichtigste Kriterium der Regalmeterplatz – verbunden mit den Kosten –und nicht die politisch-historische Bedeutung“, so Boehlich. Nach Informationen der GAL war der ehemalige Leiter der KZ-Gedenkstelle Neuengamme, Ludwig Eiber, gegen jegliche Aktenvernichtung. Der Senat hatte hingegen mitgeteilt, daß die Kriterien der „Archivwürdigkeits“-Prüfung einvernehmlich mit der Gedenkstätte und anderen historischen Forschungsinstituten getroffen worden sei.

Mißtrauen dürfte auch ein weiterer vom Senat eingestandener Tatbestand hervorrufen: Die Justizbehörde will die nicht archivwürdigen Akten zur Verschlußsache erklären. Man prüfe zur Zeit, „ob und unter welchen Bedingungen“ eine Einsicht verweigert werden dürfe, trotz der Bedenken des Rechtsausschusses der Bürgerschaft. Kann die Akteneinsicht der unwürdigen NS-Akten abgelehnt werden, hätten ForscherInnen keine Möglichkeit, die angeblich bedeutungslosen Dokumente vor der Vernichtung in Augenschein zu nehmen.