Wo bitte geht's nach Babel?

Die Jury in Cannes singt das Lob des einfachen Lebens (und Filmens) – Goldene Palme für Mike Leighs Film „Secrets and Lies“  ■ Von Mariam Niroumand

„Bevor ich nach Cannes kam“, sagte der Schauspieler Woody Harrelson während der Preisverleihung, „war ich immer vor einem Sündenbabel, einem Sodom und Gomorrha gewarnt worden. Ich bin jetzt eine Woche hier und habe es nicht entdeckt. Kann mir jemand helfen? Ich stehe zur Verfügung.“ In der Tat nahm sich gerade die Zeremonie ein bißchen aus wie die Einweihung eines Mädchenpensionats in Lyon. Die französische Schauspielerin Sabine Azéma führte durch die Festivität in einem orangefarbenen, schulterlosen Kleid, dessen Korsage seine Trägerin immer gegen deren Willen an den Bühnenrand zu schieben schien. Außerdem sprach sie eine Spur zu laut und zu schrill. Francis Ford Coppola schritt dann wie ein Entenpapst vor seiner zehnköpfigen Jury einher, die während der folgenden Ereignisse artig auf der Bühne herumsaß. In der Jury waren unter anderem die englische Schauspielerin Greta Scacchi, der kanadische Regisseur Atom Egoyan, sein französisch-vietnamesischer Kollege TrÛn Anh Hùng und der deutsche Kameramann Michael Ballhaus – alles in allem eine Zusammensetzung, bei der „Formalisten“ und „Politiker“ gleichermaßen vertreten waren.

Ein Trend, der schon in der Auswahl durch Festivalleiter Gilles Jacob zu verzeichnen war, setzte sich auch in der Preisverleihung durch: Geehrt wurde vor allem ein Kino, das man „Eleanor- Rigby-Kino“ taufen könnte, nach dem Beatles-Song über die Passion einer einfachen grauen Maus, die da zugrunde geht, wo die andern feiern. Kino über (aber nicht unbedingt für) das Londoner East End: Mike Leighs „Secrets and Lies“ erzählt die Geschichte einer schwarzen Augenärztin, die nach dem Tod ihrer Adoptivmutter nach ihrer biologischen Mutter sucht und auf ein verheultes, weißes Wrack (Brenda Blethyn, die für ihre Rolle der Cynthia die Palme als beste Hauptdarstellerin bekam) und deren Familie aus der Vorstadt trifft. Wo sich ethnische Differenz mit sozialem Gefälle trifft, läßt Leigh seine Protagonisten – nicht ohne einen gewissen Genuß – in eine Peinlichkeit nach der anderen trampeln, was einerseits belächelt wird, sich andererseits aber zu einem Drama mit griechischen Proportionen auswächst.

Leigh konnte sehr fuchsig werden, wenn man ihn in Cannes auf seine eigene Herkunft ansprach. „I'm working class“, zischte er auf die Frage eines belgischen Journalisten, ob es tatsächlich in London solche Außenklos gäbe, wie sie oft und gern in „Secrets and Lies“ benutzt werden, „definitely working class, from a place called Manchester.“ Zwar war sein Vater Arzt, „aber wir mußten über der Chirurgie wohnen“! Leigh stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie und trat, nachdem er diverse Kunsthochschulen (mit einem speziellen Interesse für Surrealismus) in London besucht hatte, dem Habonim-Club bei, einer Jugendorganisation mit kommunitaristisch- zionistischer Ausrichtung. Bis vor kurzem lebte er im heruntergekommenen Wood Green im Norden Londons mit seiner Frau, die gern in eine Gegend gezogen wäre, die ihrem Einkommen eher entsprochen hätte. Ein Kollege vom Guardian erinnerte sich, wie sie einmal in Leighs Büro platzte und rief: „see you at L'Escargot“, worauf Leigh tief errötete.

Für „Secrets and Lies“ bekam der Regisseur ein weitaus höheres Budget als für seine letzten Filme „Naked“, „High Hopes“ oder „Life Is Sweet“: „Aber ich muß damit keine Brücken in die Luft sprengen. Wenn ich die Wahl habe, ob ich lieber nach Hollywood gehen oder mir zwei Stahlnägel in die Augen stechen soll, nehme ich die Nägel.“

Im selben Trend – es lebe der einfache Mann – lag auch der Preis für den besten männlichen Hauptdarsteller, tränenreich ex aequo vergeben an Daniel Auteuil und den mongoloiden Pascal Duquenne, die gemeinsam nach dem Modell „Rain Man“ in „Der achte Tag“ von Jaco van Dormael aufgetreten waren. „Comment dire“, stotterte Auteuil, der während des ganzen Abends Duquenne an der Hand führte und der sich mit diesem Film endgültig in die Liga „großer französischer Volksschauspieler“ gespielt hat.

Comment dire? Der Preis für das beste Drehbuch war offenbar so sehr ein Trostpflaster, daß Jurypräsident Coppola dreimal auf das Blatt schauen mußte, bis es ihm wieder einfiel: Jacques Audiard bekam ihn, für seinen Film über einen Felix Krull der Résistance, „Un Héros Très Discret“. Diese Entscheidung schmerzt hier in Frankreich um so mehr, als man sich wieder einmal so gegen Hollywood aus dem Fenster gelehnt hatte und in diesem Jahr der Beitrag des französischen Kinos mit fünf Wettbewerbsfilmen ungewöhnlich hoch und fast durchweg von stattlicher Qualität war.

Ganz wollte sich die Jury den Schneid aber doch nicht abkaufen lassen und vergab ihren Großen Preis – der im Gegensatz zur Goldenen Palme, die als Konzession an das große Publikum gilt, immer den „Cineastenpreis“ abgibt – an Lars von Triers „Breaking the Waves“, ein wirklich erschütterndes Melodram an der Westküste Schottlands in der Tradition von Dreyer und Douglas Sirk. Von Trier war nicht nach Cannes gereist, da er unter Flug-, Zug- und Schißangst litt. Seine Hauptdarstellerin Emily Watson nahm für ihn den Preis entgegen.

Der Preis für die beste Regie ging an Joel und Ethan Coen, die mit ihrem Thriller „Fargo“ auf Nummer Sicher gegangen waren, mit der sie hier schon einmal reüssierten („Barton Fink“ bekam 1991 die Goldene Palme).

Am ungewöhnlichsten aber war, daß Coppola dann einen Preis für die größte Kühnheit vergab, von dem sich ein Teil der Jury distanzierte. Er ging an David Cronenbergs „Crash“, eine Buñuel würdige düster-lustige Autopornographie aus Toronto.