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Mit 60 ist noch lange nicht Schluß

Sie sind Mitte Fünfzig, arbeiten an der Uni, im Büro oder im Kaufhaus. Mit 60 wollen sie aufhören. Drei Berlinerinnen über ihre Wut, kaputte Knochen und die Angst vor der Arbeit bis 65  ■ Von Petra Welzel

Vor zwei Stunden war Jutta Baer* noch auf einer Veranstaltung der ÖTV. Jetzt serviert ihr Freund zu Hause im Wohnzimmer Beelitzer Spargel mit Kartoffeln. Im Fernsehen läuft eine dieser Vorabendserien. Zwischen Tellergeklapper und Gerichtsverhandlungen auf der Mattscheibe erzählt Jutta, daß vorhin auf der Versammlung über die Warnstreiks gegen die geplante Nullrunde bei den Tarifverhandlungen diskutiert wurde. Nur darüber, daß Frauen wie sie im Jahr 2001 die ersten sein sollen, die bis zum 65. Lebensjahr arbeiten sollen, habe niemand geredet.

Eine stufenweise Anhebung der Lebensarbeitszeit auf 65 Jahre vom Jahr 2001 an ist auch nach dem bestehenden Rentenreformgesetz vorgesehen. Allerdings mit dem Unterschied, daß das bis 2006 zunächst nur für jene zutreffen soll, die ab dem 63. Lebensjahr Anspruch auf ein Vorruhestandsgeld haben. Sechs Jahre später träfe es auch jene mit vorzeitiger Altersrente, die Arbeitslosen und Frauen über 60. Nach dem neuen Vorschlag sollen die Frauen nun von heute auf morgen fünf Jahre dranhängen.

Die letzten Kartoffeln und Spargelspitzen wandern vom Teller in den Mund, und auf dem leeren Rund wird unter Saucenresten ein gelber Olympiabär sichtbar. Auch so eine Pleite. Berlins Bewerbung um die Olympischen Spiele hat den Haushalt der Stadt Milliarden gekostet. Die da oben schmeißen das Geld für „Tinnef“ raus, und an der Rente der Frauen soll gespart werden: Jutta Baer versteht das nicht.

Sie hat 30 Jahre in der DDR gearbeitet. Nach dem Studium der Lebensmitteltechnologie ging sie als Betriebshygienikerin zum Milchhof Berlin, dem größten milchwirtschaftlichen Betrieb der DDR. 1969 wechselte sie auf eine befristete Assistentinnenstelle an die Berliner Humboldt Universität, wo sie 1972 als Forschungsingenieurin fest angestellt wurde, „mit dem Vorsatz zu promovieren“, aber daraus wurde nichts: „Da war ich mir selbst immer etwas im Weg – und auch die äußeren Umstände.“ Die Heirat 1961, dann die zwei Kinder, Erziehung, der Haushalt und immer arbeiten.

Nach der Wende wurde Jutta Baers Institut der Technischen Universität eingegliedert. Seitdem ist sie Angestellte der TU und des öffentlichen Dienstes. Mit denselben Pflichten, aber nicht mit denselben Rechten wie ihre WestkollegInnen. Erst wenn die Löhne der ostdeutschen KollegInnen auf Westniveau angehoben werden, haben auch sie die Möglichkeit, in die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder für RentnerInnen aufgenommen zu werden: „Nach fünf Jahren und einem Tag können wir dann unsere Rentenansprüche geltend machen.“

Angeglichen werden sollen die Löhne im Oktober 1996. Also muß Jutta Baer mindestens bis zu ihrem 61. Lebensjahr arbeiten. Gerade hat sie ihren 56. Geburtstag gefeiert. Überall stehen noch Blumenvasen mit weißen Lilien, auf der Anrichte türmen sich die Geschenke: Chinesische Porzellanschalen und ein paar Bücher, darunter „Das Superweib“. Sollte die Bonner Vorlage zur Heraufsetzung des Rentenalters Gesetz werden, kommen noch vier Jahre dazu. „Dabei habe ich immer gesagt, im Jahr 2000 gehe ich in Rente, mit meinem 60. Geburtstag. Diese Vorstellung fand ich witzig“.

Rückschläge hat Jutta Baer in ihrem Leben schon einige gesammelt – wie den Nippes um sich herum: den Teddybär, das Walroß, die Mäuse aus Plüsch. Als wären sie Ersatz für ihre Kinder, die sie 1975 verlassen hat, als sie sich von ihrem Mann scheiden ließ. „Ich bin damals so ein bißchen ausgeflippt, muß ich zugeben“, sie sagt das stockend und leise, den Kopf mit den kurzen braunen Haaren auf die Brust gesenkt.

Eine ihrer Töchter sagt heute: „Meine Mutter hatte überhaupt keine Chance.“ Jahrelang war Jutta Baer die Hauptverdienerin der Familie. Als ihr Mann noch studierte, arbeitete sie 45 Stunden in der Woche, alle 14 Tage am Wochenende – und zu Lehrgängen war sie oft einen ganzen Monat weg. Viel hatten die Töchter da nicht von ihrer Mutter. Darunter hat auch Jutta Baer selbst gelitten: „Ich dachte, ich hätte sie im Stich gelassen.“ Erst im Wanderverein und im Chor ihrer Kirchengemeinde fand sie wieder Freunde. Und Seelsorge erteilt sie nun selbst am Telefon. Alles Dinge, die sie gerne intensivieren würde, wenn sie in Rente geht. „Wer so viel gearbeitet hat, immer voll, dann noch Kinder und immer Gewehr bei Fuß, der merkt eben doch, daß er so jung nicht mehr ist. Da fällt es manchmal morgens schon schwer aufzustehen.“

„Mit 50 geht es abwärts“, weiß auch Waltraud Liebscher*. Kurz streift ihr Blick durch die durchbrochene Fassadenverkleidung auf die Dächer der Karl-Marx- Straße in Berlin-Neukölln. Sie kämpft mit den Tränen. Seit 37 Jahren arbeitet sie für Hertie. Gleich nach ihrer Lehre als Industriekauffrau hat sie mit 18 Jahren in dem großen Warenhaus angefangen. „Ganz klein, praktisch als Laufmädchen.“ Dann hat sie sich hochgearbeitet, war zehn Jahre im Reisebüro und seitdem in der Lohnabrechnung, hier über den Dächern der Stadt.

Doch jetzt, nach knapp 40 Berufsjahren, reicht es ihr. „Ich glaube, bis 65 würde ich es nicht mehr packen“, sagt sie und schluckt die Tränen herunter. „Was der Staat sich dabei gedacht hat? Die Reichen kriegen immer mehr Geld, die müssen keine Vermögenssteuer mehr bezahlen, keine Erbschaftssteuer, und der kleine Mann muß fünf Jahre dranhängen.“

Aussteigen könnte sie natürlich auch eher, wenn sie das wollte. Doch dann nur mit finanziellen Abstrichen. Schon nach der 92er Rentenreform ist der vorzeitige Ausstieg aus der Arbeit ab dem Jahre 2001 mit monatlichen Abschlägen von 0,3 Prozent verbunden. Bei drei Jahren macht das schon 10,8 Prozent. Für Waltraud Liebscher würde das heißen, statt 1.800 Mark Rente nur noch 1.600 Mark zu bekommen; bei noch früherem Ausscheiden entsprechend weniger. Mit den 400 Mark Betriebsrente käme sie so auf knapp 2.000 Mark Ruhegeld im Monat. Da sie allein schon für ihre Zweizimmerwohnung 950 Mark bezahlt, bliebe nicht mehr viel übrig.

Nach einem Leben mit einem Alkoholiker an der Seite, einem Sohn, den sie lange unterstützen mußte und einer Krebserkrankung hängt Waltraud Liebschers Nervengerüst am seidenen Faden. „Man ist halt nicht mehr so belastbar. Wenn ich abends nach Hause komme, bin ich froh, wenn ich alle Viere von mir strecken kann. Ich habe zwei Kätzchen, und mit denen lebe ich ganz gut und zufrieden. Ich bin abends so erschossen, daß ich für überhaupt nichts mehr Interesse habe.“

Deshalb habe sie sich auch gefreut, nur noch fünf Jahre arbeiten zu müssen. Doch genau dann soll die neue Rentenreform in Kraft treten.

Davon betroffen sein werden bundesweit etwa eine Million, bei Hertie in Neukölln ungefähr 150 der knapp 800 MitarbeiterInnen sein. Darunter auch Inge Bruns*. Seit 23 Jahren arbeitet die Springerin mit dem leuchtend roten Kurzhaarschnitt und dazu passendem Lippenstift und Nagellack für den Kaufhauskonzern. Zur Zeit zwischen Slips, Socken und Krawatten in der Herrenkonfektion.

Auch sie hat sich von ihrem Mann scheiden lassen und ihre drei Kinder allein großgezogen. Lebensmittelverkäuferin hat sie gelernt, für Opel Kolben gepreßt, später bei Rotaprint als Dreherin gearbeitet und während der ersten Kinderjahre aushilfsweise Blumen verkauft. Bis sie der Chef von Hertie im Wedding ins Kaufhaus holte. Das war 1973.

Und jetzt reicht es ihr. Kerzengerade setzt sie sich hin, die Finger ineinander gefaltet, und holt Luft: „Zuerst habe ich das gar nicht so richtig verstanden. Da habe ich gedacht, das kann doch wohl nicht möglich sein“, und meint damit die neue Gesetzesvorlage.

„Aber als ich mir das dann richtig durchgelesen habe – also ich muß schon sagen, ich finde das unerhört. Wenn man bedenkt, man hat sein ganzes Leben lang gearbeitet, Kinder großgezogen, dann ist man aus meiner Sicht soweit, daß man überhaupt nicht mehr arbeiten kann. Die Knochen sind kaputt.“ Ein Umstand, den die Bonner Regierung bisher kaum bedacht hat. Ältere Arbeitnehmer sind teurer, da sie häufiger krank und weniger leistungsfähig als die jüngeren sind. Für Inge Bruns ist klar: „Wenn ich hier noch bis 65 stehen soll, dann kann ich mir eine Kiste hierherstellen, und da können sie mich gleich reinlegen.“

Einen kurzen Moment überlegt sie und fügt dann hinzu: „Normalerweise dürften wir uns so was gar nicht gefallen lassen. Wir müßten auch mal auf die Straße gehen. In anderen Ländern wird das ja auch gemacht. Nur in Deutschland, da wird gegen Atomkraftwerke oder gegen die Einführung von Studiengebühren demonstriert. Nur wenn wir keine Rente mehr kriegen oder weniger, dann kommt keiner auf die Idee, zu demonstrieren.“

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