Die „ausgestreckte Hand“ schlägt zurück

■ Mehr als 20.000 Menschen demonstrieren gegen „sozialen Kahlschlag“

An die Proletarier richtete Rolf Becker gestern das Wort, an jene, denen mehr als Pfennigbeträge zustünden, deren Klassenbewußtsein es zu stärken gelte. Auf der Moorweide zitierte der Schauspieler und IG Medien-Vorständler Kurt Tucholsky, beschwor die Vergangenheit herauf und machte sie mit der Gegenwart vergleichbar. Auch Arbeiter waren gekommen zur bundesweit ersten Großdemonstration gegen das „Sparpaket“ der Bundesregierung; doch Angestellte, die nach zahlreichen Warnstreiks im öffentlichen Dienst und erkennbar an den rotweißen ÖTV-Fahnen auf die Moorweide gezogen waren, bildeten die große Mehrheit.

Zu „mehr Druck von unten“ gegen den „sozialen Kahlschlag“ hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in Hamburg aufgerufen, mehr als 20.000 Menschen probten Aus- und Widerstand. Und vernahmen, daß nun auch die Gewerkschaften von ihrem Kompromißversuch mit den Regierenden die Nase voll haben. Immer noch beharrte der DGB allerdings auf der Richtigkeit des Versuchs. Das „Bündnis“ sei eine Aktion auch für die Arbeitslosen gewesen, hatte der Hamburger DGB-Vorsitzende Erhard Pumm am frühen Nachmittag einer Gruppe erwerbsloser Menschen versichert. Und: „Die Gewerkschaft ist nicht nur für die Inhaber von Arbeitsplätzen da.“

Nicht ändern konnten solche Beteuerungen, daß zumindest eine Teilnehmerin der Arbeitslosen-Demo – die nach Berufsunfähigkeit, Umschulung und befristeter Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vor zwei Monaten arbeitslos geworden war – bekannte, aus der Gewerkschaft ausgetreten zu sein: „Weil die ja doch nichts ändern kann.“ Zur Demo war sie dennoch erschienen – eine Ambivalenz, die sich auch auf der Moorweide zeigte: Zwischen Volksfeststimmung und ernsten Tönen, zwischen gereimten und radikalen Parolen bewegte sich der Protest.

Pumm gab zu, sich getäuscht zu haben: „Die Bundesregierung hat in die ausgestreckte Hand der Gewerkschaft gespuckt.“ Am Verhandlungstisch sei keine Einigung zu erzielen. Warnstreiks und Proteste seien längst fällig gewesen, sagte ein Mitarbeiter des Kindertagesheims in der Charlottenburger Straße zur taz. Auch wenn Kollegen im Ausland unter weit schlechteren Bedingungen arbeiteten, sei die Einführung ähnlicher Bedingungen hierzulande durch nichts zu rechtfertigen. Denn Geld sei vorhanden, zeigten sich die Rednerinnen und Redner aller Gewerkschaften und Gruppierungen überzeugt, es stecke bloß in den falschen Taschen.

Die Krise sei nicht dadurch zu beseitigen, daß man den Gürtel enger schnalle und dürfe nicht beseitigt werden durch ein „systematisches Niederringen“ von Arbeitenden und Arbeitslosen, sagte Rolf Becker. Deutschland, so der Hamburger ÖTV-Vorsitzende Rolf Fritsch, sei bereits auf dem Weg in die Klassengesellschaft. Diese Ausgrenzung werde die Menschen gegen das System aufbringen, versprach Pumm. Stefanie Winter

Die nächste Großdemonstration gegen das „Sparpaket“ ist für den 15. Juni in Bonn geplant.