Nur freikommen aus diesem Inferno!

Er lebt streng bewacht. Pericle ist nicht sein richtiger Name. Sein Vater ist aus der Mafia ausgestiegen  ■ Von Werner Raith

An die ersten Stunden seines Lebens als „Untergetauchter“ oder, wie er sich verbessert, „untergetaucht Gewordener“, hat Pericle nur noch bruchstückhafte Erinnerungen, „merkwürdigerweise: eigentlich müßten sie sehr intensiv sein, weil ich noch nie solche Angst hatte wie damals“. Mitten in den Unterricht der zweiten Klasse Mittelschule in seinem sizilianischen Bergstädtchen stürmten vier schwerbewaffnete Männer, hielten der Lehrerin einen Ausweis und „noch irgend so ein Papier“ vor die Nase, packten ihn, murmelten, sie seien von der Polizei und es werde mir nichts geschehen, auch Mama gehe es gut und den Geschwistern, nur müsse man sofort weg.

Das war vor mittlerweile fast vier Jahren, und Pericle hatte in diesem Augenblick „nicht den mindesten Zweifel, daß das keine Polizisten waren, sondern Leute aus einer mit uns verfeindeten Cosca“. Cosca, das ist der sizilianische Ausdruck für eine Bande, mitunter auch für einen Mafia- Clan. Ein Junge von dreizehn Jahren weiß in dieser Gegend genau Bescheid über die Tricks, mit denen Entführer oder Killer an ihre Opfer herankommen.

Gianni, einer der Sicherheitsbeamten in der Wohnung von Pericle, der sich die Zeit damit vertreibt, eines der Patronenmagazine seiner Maschinenpistole zu leeren und wieder zu füllen, nickt und grinst, Marke: Der Junge ist auf Draht.

Ob Pericle damals mit seinem Leben abgeschlossen hatte, ob er glaubte, daß er für Lösegeld wieder freikomme, oder ob er an eine Verwechslung dachte, kann er heute nicht mehr sagen. Er erinnert sich noch, daß er zunächst flach auf dem Hintersitz liegen mußte, aber „merkwürdigerweise keine Augenbinde bekam“, dann war da ein stinkendes Autobahnklo, wo er sich übergeben mußte und entdeckte, daß ihm wohl einiges in die Hose gegangen war und daß der Wagenkonvoi, „drei oder vier Autos“, deshalb irgendwo anhielt und er, ohne aussteigen zu dürfen, neue Jeans bekam. Danach wieder Lücken, und dann „saßen wir zuerst im Schiff, wohl von der Hafenpolizei oder vom Zoll“ – und dann weiß er noch von der Landung mit einem Flugzeug, aber an den Flug selbst hat er keine Erinnerung.

So begann für Pericle sein Leben im „legalen Untergrund“, wie er seinen Zustand beschreibt, ein Zustand, aus dem er nun immer mehr „freizukommen versucht“. Freikommen, das ist einer seiner besonders häufig verwendeten Ausdrücke. Freikommen aus den Erinnerungen – „und den Lücken“ – von damals, aber auch freikommen von dem Leben, zu dem er vorher bestimmt war: „Boss werden, Mafioso, erpressen, töten, am Ende selbst getötet werden oder vielleicht ein klägliches Leben als ,Aussteiger‘ zu führen, wie mein Vater jetzt irgendwo in den Alpen“. Freikommen will er aber auch von seiner „eigenen Unfähigkeit, mich als normalen Menschen anzusehen, und vielleicht auch mal ganz normale Kinder zeugen wie der Gemüsehändler von nebenan“.

Pericle ist das Kind eines Mafia- Aussteigers, „pentito“ im Pressejargon, ein Reuiger; die Mafia nennt ihn „infame“, Dreckskerl. Daß sein Vater der Grund für die seinerzeitige Flucht aus seinem Heimatort war, wurde Pericle schon wenige Tage danach klar – nur wußte er da noch nicht zu deuten, was genau geschehen war; Mutter weinte nur immer vor sich hin und sagte, „sie werden uns alle umbringen“, der ältere Bruder, damals 15, schrie, daß er das schon besorgen werde, wenn der ihm unter die Finger käme, „dieses Schwein, dieser Verräter“ – worunter er seinen Vater verstand.

Auch Pericle begann zu hassen – niemand Konkreten, „sondern alle, einfach alle, meine Eltern, meine Geschwister, meine Stadt, die Polizei und den lieben Gott, den ganz besonders“. Alles hatten die ihm genommen, seine Freunde, seine Fußballmannschaft, und das gerade zwei Tage vor dem Gewinn der Kreisjugendmeisterschaft, sein eben erst erstandenes Kleinmotorrad, vor allem aber seine Freundin Ilda, die er heiraten wollte und die er nun nie wiedersehen sollte.

Doch all dieser Haß war nichts „gegen die Angst“, jenes unbestimmte Gefühl, das ihm bei jedem Knall auf der Straße, dem Autotürenschlagen, dem Schrei von Kindern das Herz einengte und es rasend zum Schlagen brachte. „Natürlich waren daran auch die ständigen Trockenübungen der Polizisten schuld, mit denen sie uns auf alle möglichen Gefahren vorbereiteten“. Sicherer fühlte sich Pericle nicht.

Kein Wunder: Schon vor ihrer Flucht hatte man in ganz Sizilien über Entführungen von Kindern ausgestiegener Mafiosi gehört; sie wurden erst wieder freigelassen, nachdem der Vater seine Behauptungen zurückgenommen – oder sich umgebracht hatte.

Pericles Vater scheint zumindest seine Aussteigeaktion jedoch besonders intelligent eingefädelt zu haben: Das Abtauchen hatte der Vater wie eine regelrechte Mafiahinrichtung arrangiert. Sein Auto wurde am Straßenrand gefunden, der Schlüssel steckte, als wäre der Mann gerade zum Pinkeln gegangen, doch dann lagen da einige Patronenhülsen herum, Blut am Boden, Schleifspuren über das dürre Sommergras zu einer Nebenstraße, wo einige Ölflecke am Boden einen dort geparkten Wagen verrieten. Nur die Leiche fehlte, doch die, so munkelte man bald im Dorf, sei wohl in irgendeine Mauer einbetoniert oder im Meer versenkt worden.

Daß der Vater noch lebte, erfuhr die Familie erst, als sie aus Sizilien weggebracht wurde. „Die schlimmste Zeit für meinen Vater“, sagt Pericle, „war wohl die zwischen seinem Abtauchen und jenem Punkt, an dem ihm die Behörden zu glauben begannen“ – gut drei Monate wohl. Erst wenn die Polizei einem Aussteiger glaubt, wird das Familien-Schutzprogramm in Gang gesetzt.

Glaubt man den Behörden – Pericle zumindest tut dies –, so war sein Vater Anfang der 90er Jahre in seiner Cosca ins Abseits geraten, weil er auf eigene Faust Geschäfte betrieb, dabei in Schwierigkeiten kam und ohne Erlaubnis seines Bosses einen Privatkrieg gegen einen betrügerischen Fleischgroßhändler begann. Da hatte es auch Leichen gegeben, und das wiederum hatte Hunderte von Polizisten in die Gegend gebracht. Derlei stört den Gang der „normalen“ Geschäfte, von der Schutzgelderpressung bis zum Drogenhandel, und so wurde Pericles Vater vom Boss „in den Ruhestand versetzt“ – die „sichere Vorstufe zur Ermordung“, wie der Junge weiß. Da blieb nur noch Abtauchen und Zusammenarbeiten mit den Behörden.

Die Erkenntnis, daß er tatsächlich in den Händen der Polizei gelandet war und nicht entführt, bedeutete für Pericle seinerzeit nur kurzzeitiges Aufatmen: „Da ich der einzige in der Familie war, der schnell den Tonfall und die Mundart der Leute in unserer neuen Umgebung nachzumachen verstand, kamen die auf die Idee, mich gar aufs öffentliche Gymnasium zu schicken; das hatten sie bis dahin nur höchst selten probiert.“ Die Schutzbeamten mußten auch da über ihn wachen, doch gleichzeitig durfte nicht bekannt werden, daß da ein „Geschützter“ in der Schule war.

Mitunter versetzten gerade die Schützer Pericle jedoch in Angst und Schrecken: „Einmal standen da zwei Burschen herum, die eindeutig sizilianische Gesichter hatten. Ich sprang hinter der Schule aus dem Fenster, fuhr mit einem Freund auf dessen Motorrad zur übernächsten Stadt und von dort mit zweimal Umsteigen per Bus heim.“ Dort passierte dann, was natürlich unvermeidlich war: Kaum bemerkten sie ihn, warfen sich vier Beamte auf ihn, schleppten ihn ins Domizil und quetschten ihn aus, in der absoluten Gewißheit, er sei entweder entführt worden oder ausgerückt: „Mafioso bleibt Mafiosi, dachten die, er dealt heimlich oder sucht Kontakt mit Sizilien.“ Wie auch immer – verbrannt war mit der spektakulären „Wiederauffindungsaktion“ jedenfalls die „geschützte“ Wohnung, man mußte wieder umziehen.

Erst nach mehr als zwei Jahren bekam sich Pericle, wie er das nennt „in den Griff“. Bei einem Freund hatte er ein Buch über autogenes Training entdeckt – in Englisch, weshalb er die Sprache ganz schnell intensiv büffelte –, in dem Techniken zur Selbstberuhigung standen „Wenn sie mich erwischen wollen, erwischen sie mich“, sagte sich Pericle danach immer wieder vor, „wenn ich davor ständig Angst habe, verliere ich aber auch noch die paar Wochen, Monate oder Jahre, die ich noch habe. Also versuche ich zu leben, als gäbe es keine Gefahr.“

Er zieht die Mundwinkel hoch, streicht sich seine langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und bindet sie zu einem kleinen Zöpfchen zusammen: „Für die Sicherheitsbeamten war das natürlich der Horror schlechthin. Ich habe plötzlich gemacht, wozu ich Lust hatte.“ Der Polizist neben ihm nickt, seufzt, nickt wieder. Dann aber sagt er zum erstenmal etwas: „Aber das Gute daran war, daß er seinen Kopf auf freundliche Weise durchgesetzt hat, nie motzig oder böse. Und das ist schon viel wert.“ Er dreht sich um und putzt wieder an seiner Maschinenpistole herum.

Pericle überlegt, ob er nicht irgendwann einmal mit anderen Sprößlingen aus Mafiafamilien, Aussteigern oder nicht, zusammenkommen könnte, um mit ihnen jenes „Freikommen“ zu diskutieren, das sein sehnlichster Wunsch ist. Pericle weiß noch aus seiner Zeit in Sizilien, daß „da nicht wenige sind, die schon lange überlegen, ob das Leben in der Mafia noch Sinn hat“. Erstaunlich bei der massiven Indoktrination in den einschlägigen Familien. Pericle schüttelt den Kopf. „Nicht erstaunlich. Mafia hat früher, für unsere Großeltern und auch für unsere Eltern, Leben und Überleben bedeutet, es war ein in sich geschlossenes System. Heute gibt es Alternativen.“ Pericle ist heute 17, im Gymnasium gehört er zu den Besten. Seine Mutter sagt, er sei entschieden, schlagfertig, intelligent. „Eben“, sagt Pericle, „und genau das beunruhigt mich. Denn dasselbe sagt sie auch von meinem Vater.“