Auf dem Weg zur Dusche lauert der Tod

Rußlands Präsident will die Todesstrafe abschaffen, um die Auflagen für den Europarat zu erfüllen. Kritiker haben Zweifel. Im Februar wurden 30 Menschen hingerichtet  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Der Vollzugsbeamte eröffnet dem Todeskandidaten die frohe Nachricht, sein Gnadengesuch sei erhört und vom Präsidenten in lebenslange Haft umgewandelt worden. Dann fragt der Beamte den Häftling, ob er eine Dusche nehmen wolle? Der stimmt zu. Man führt ihn durch lange Korridore. Hier lauert das Ende. Ein Relais löst die Selbstschußanlage aus, der Inhaftierte bricht tot zusammen. Angeblich ist das die häufigste Methode bei der Vollstreckung von Todesurteilen in Rußland. Die automatisierte Beseitigung von Verbrechern erübrigt den Scharfrichter und bewahrt den Vollstrecker vor psychischen Belastungen. Aber es gibt sie noch, die Henker, die mit einer Pistole dem Verurteilten in die Stirn oder ins Herz zielen.

Letzte Woche ordnete Präsident Jelzin per Dekret an, die Vollstreckung der Todesstrafe „etappenweise“ zu beschränken, was auch immer das besagt. Ausdrücklich erwähnte der Ukas den Grund des Erlasses: „im Zusammenhang der Aufnahme Rußlands in den Europarat“. Das sollte der Maßnahme die Brisanz nehmen. Denn die Abschaffung der Todesstrafe ist in Rußland alles andere als populär. Nur einige Liberale und Menschenrechtler zählen zu den Verfechtern. Drei Jahre räumte der Europarat Rußland ein, um die Gesetzeslage der europäischen Norm anzupassen. Die nationalistische und kommunistische Parlamentsmehrheit scheint dazu indes nicht willens.

Seit Rußland im Februar in den Europarat aufgenommen wurde, läuft die Liquidationsmaschine auf Hochtouren. Ob Urteile vollstreckt wurden, läßt sich nach Angaben des Menschenrechtlers Viktor Koganjasnij nicht eindeutig überprüfen. Als Indiz dienen die Gnadengesuche, die Präsident Jelzin abgelehnt hat. Allein im Februar waren es 30, sagt Lew Rasgon, der in der Begnadigungskommission sitzt. Der Präsident hatte sie 1991 selbst ins Leben gerufen. Er wollte damals beweisen, das demokratische Rußland sei auf dem Wege Richtung Europa. In der Tat stellte sich bald ein Wandel ein. 1992 wurden 55 Gnadengesuche bestätigt, nur fünf Todesurteile vollstreckt. Im folgenden Jahr begnadigte Jelzin 149 Todeskandidaten, vier wurden hingerichtet. 1994 stellten 149 ein Gesuch, 19 entkamen dem Tod nicht. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl wieder auf 86 an, allein im Februar dieses Jahres waren es dann 30.

Rasgon vermutet, die Hast, mit der jetzt Verurteilte in den Tod geschickt werden, stehe in direktem Zusammenhang mit der Aufnahme in den Europarat. Eigentlich wäre Moskau verpflichtet gewesen, bereits beim Eintritt ein Moratorium zu verfügen. Bislang passierte jedoch nichts, auch der neuerliche Erlaß spricht nur von einer „etappenweisen Einstellung“. Koganjasnij zweifelt an der Ernsthaftigkeit des Ansinnens. Engste Mitarbeiter des Präsidenten, glaubt Rasgon, drängen darauf, soviel Gnadengesuche wie möglich abzulehnen, um die Staatskasse zu entlasten. Außerdem tummeln sich im Kreml Bürokraten, die die Todesstrafe für das geeignetste Mittel der Verbrechensbekämpfung halten. Während die Kriminalität steige, stieße Nachsicht im Umgang mit Verbrechern bei der Bevölkerung nicht auf Gegenliebe, so ihr Argument. Gerade vor den Präsidentschaftswahlen käme Milde nicht an. Der Schriftsteller Anatolij Pristawkin bringt es auf den Punkt: „Die Wörter ,Humanismus‘ und ,Barmherzigkeit‘ sind in unserer Gesellschaft längst zu Schimpfwörtern geworden.“ Er teilt die russische Gesellschaft in zwei Gruppen, die hinter und die vor dem Stacheldraht. Wer sich in Freiheit befindet, ruft nach Vergeltung. Doch vielleicht sitzt er schon am nächsten Tag selbst? Denn weder Killer noch Mafiabosse bevölkern die Todeszellen. Es sind die ganz einfachen Menschen. Die meisten Verbrechen, 80 Prozent, werden im Suff, in den eigenen vier Wänden begangen. Der Sohn erschlägt den Vater, die Tochter erwürgt im Affekt die Mutter. Allein 16.000 Frauen werden pro Jahr in Rußland von ihren betrunkenen Ehemännern umgebracht.

„Der organisierten Kriminalität kann man wohl Herr werden, doch was tun mit einem Volk, das sich in ein wodkatrunkenes Ungeheuer verwandelt hat?“ fragte Pristawkin im Blatt der russischen Intelligenz Literaturnaja Gaseta. Die Verrohung der Sitten ist offenkundig. Doch ist das allein den Reformen anzulasten? Zum Teil sicherlich. Aber die Gründe reichen auch in die Geschichte zurück. In Orten der Ukraine und Rußland, die besonders stark vom Stalinschen Terror heimgesucht wurden, führte der Mediziner Lupandin eine Studie durch. In Gemeinden, in denen die Führungsschicht fast vollständig ausgelöscht wurde, liegt der Anteil der Alkoholiker und Verbrecher heute zwischen 20 bis 80 Prozent über dem Durchschnitt.

Trotz der schauerhaften historischen Erfahrung plädieren selbst Kulturträger wie der Regisseur Mark Sacharow für gewaltsame Lösungen im Justizvollzug: „Wir können nicht nach den Gesetzen der zivilisierten Länder leben“, schrieb er in der Iswestija, „das nötigt uns zu einer zeitweiligen Verschärfung der Gesetze, drei bis fünf Jahre lang, um unsere Kultur zu retten.“ Repressionen retten nicht die Kultur. Dennoch wären ihm die meisten Todeskandidaten dankbar. So schrieb ein Begnadigter an die Kommission: „Bei den Lebensbedingungen im Gefängnis erhebt sich die Frage: Welcher Tod ist besser: die augenblickliche Erschießung oder der quälend lange Tod – die lebenslange Haft? Ich wähle das erste und bitte, mich zu erschießen.“