Der Victoriasee gibt die Toten nicht wieder

Die meisten Passagiere kamen nicht mehr aus ihren Kabinen, als die „MV Bukoba“ am Dienstag sank  ■ Aus Mwanza Bettina Gaus

Die Bucht vor der tansanischen Hafenstadt Mwanza liegt friedlich in der Sonne. Das glitzernde Wasser des Victoriasees umspielt in kaum wahrnehmbaren Wellen die zerklüfteten Felsen vor dem Festland. Nichts deutet darauf hin, daß sich hier vor einigen Tagen eine der größten Katastrophen in der Geschichte der zivilen Schiffahrt ereignet hat.

Mindestens 500 Menschen, vermutlich aber noch weit mehr sind ums Leben gekommen, als am Dienstag gegen 8 Uhr morgens die tansanische Fähre „MV Bukoba“ nur acht Seemeilen vor dem sicheren Hafen kenterte und sank. Die meisten Opfer sind noch im Rumpf des Schiffes eingeschlossen, wo viele von ihnen zum Zeitpunkt des Unglücks in den Kabinen schliefen.

Eine Chance hatten fast nur die, die sich auf Deck befanden. „Ich bin ins Wasser gefallen und habe mich stundenlang an einem Bündel Bananen festgehalten, bis dann ein Schiff kam und mich aufnahm“, erzählt die Krankenschwester Eunice Kagaruki, die mit Rückenverletzungen im Krankenhaus liegt. Sie war in Begleitung eines Neffen und eines 15jährigen Mädchens. „Beide sind ertrunken.“

Noch steht nicht einmal sicher fest, wie viele Passagiere überlebt haben – die Zahlen schwanken zwischen 91 und 114. Gerettet wurde auch der Kapitän. 25 Leichen, darunter 5 Kinder, konnten geborgen werden. In einem unablässigen Strom drängen sich nun Tausende vor der Leichenhalle des Bungando-Krankenhauses von Mwanza, um zu sehen, ob sie vermißte Angehörige dort finden können. In kleinen Gruppen werden sie eingelassen, mit steinernen Gesichtern defilieren sie an den Toten vorbei.

Eine Familie hat einen aus rohen Brettern gezimmerten Holzsarg mitgebracht. Drei kleine Jungen sitzen stumm daneben. Aber kaum jemand hat das Glück, seine Verwandten hier in der Leichenhalle zu finden. „In der afrikanischen Tradition ist es sehr wichtig, einen Toten wirklich begraben zu können. Für die, deren Angehörige noch im Wrack sind, ist es besonders schrecklich“, sagt Darek Kilala. Der Kfz-Mechaniker hat selbst 15 Verwandte bei dem Unglück verloren: „Sie kamen alle von einer Hochzeit zurück. Mein bester Freund ist mit seiner Frau und seinem Kind auch noch drin.“ Und dann bricht Bitterkeit und Empörung aus ihm heraus: „Das Schiff liegt 30 Meter unter Wasser. Es kann doch nicht so schwierig sein, die Leute da rauszuholen. Ich bin selber Taucher. Aber ohne Ausrüstung kann ich nichts machen. Was wir jetzt brauchen, sind Geräte. Aber die stehen alle in Daressalam und Mombasa. Nichts wird hergebracht. Und keine internationale Organisation hilft. Die geben doch alles Geld nur an Flüchtlinge.“

Über der Unglücksstelle kreisen keine Hubschrauber in der Luft, um vielleicht doch noch Überlebende zu bergen. Keine Taucher begeben sich hinunter zu dem Wrack. Auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sind nicht zu sehen. Nur ein großer Ölfleck, um den einige Fischerboote und eine altersschwache Fähre dümpeln, weist auf den Ort der Havarie.

„Die beiden da drüben gehören mir“, sagt Hussein Sherally und zeigt auf zwei kleine Kähne. „Die Leute, die sich freiwillig angeboten haben zu helfen, sind noch drauf, aber es gibt jetzt praktisch keine Hoffnung mehr auf Überlebende.“ Als der Geschäftsmann aus Mwanza in den Radionachrichten von dem Unglück hörte, tankte er fünf Boote auf, die ihm gehören, belud sie mit Lebensrettungswesten und schickte sie auf den See.

„Fast die ganze Hilfe, die hier geleistet worden ist, kam von Freiwilligen. Von offizieller Seite ist so gut wie nichts getan worden“, meint Sherallys Freund Anand Irani. Die beiden Männer gehören zu einer Gruppe, die den tansanischen Präsidenten Benjamin Mkapa an Bord des Fährschiffes „Butamia“ zum Schauplatz des Geschehens bringen.

Die „Butamia“ hatte den Unglücksort am Dienstag als erstes Schiff erreicht. „Eine halbe Stunde vorher hatten wir noch Funkkontakt mit der ,Bukoba‘. Als ich dann sah, daß sie gekentert war, habe ich einen Mayday-Ruf geschickt. Nicht einmal dafür hatte die Besatzung noch Zeit“, meint Kapitän Manase Kombe. Die meisten Geretteten verdanken ihm und seiner Crew ihr Leben: 60 bis 70 Überlebende, so schätzt Kombe, konnte er an Bord nehmen.

Staatschef Mkapa, der eine dreitägige Staatstrauer angeordnet hat, will sich vor Ort über die Umstände der Havarie informieren. Aber die glatte Oberfläche des Victoriasees, dem mit 70.000 Quadratkilometern größten Gewässer in Afrika, verrät nichts. Eine eingehende Untersuchung kündigt der Staatschef wenig später vor 8.000 Zuhörern im Sportstadion von Mwanza an, und er verspricht: „Wer auch immer verantwortlich ist, wird bestraft werden.“

Transportminister William Kusila kann sich gar nicht vorstellen, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Nein, er glaube nicht, daß die Fähre überladen war. Auch technisch sei der Dampfer in gutem Zustand gewesen. Wirklich? In der kenianischen Zeitung Nation ist zu lesen, daß das 17 Jahre alte, in Antwerpen gebaute Schiff nach seiner letzten Fahrt ohnehin nicht mehr für weitere Einsätze vorgesehen gewesen sei. Der Besitzer, die staatseigene tansanische Eisenbahngesellschaft TRC, habe einem Parlamentsausschuß letzte Woche mitgeteilt, der Dampfer sei nicht mehr seetüchtig und bedürfe größerer Reparaturen.

Für die Passagiere war die Reise von Bukoba an der Westküste des Sees zum südlich gelegenen Mwanza schon vor der Havarie ein Horrortrip gewesen. Am späten Abend hatte das Schiff gleich noch einmal angelegt: am 25 Kilometer entfernten Hafen Kemondo Bay. Dort sollte eigentlich nur Fracht aufgenommen werden. „Aber es gingen auch noch sehr viele Leute an Bord“, erzählt der 59jährige Bauer Yahaya Rushaka, der das Unglück überlebt hat. „Das Schiff war eindeutig überladen. Von Anfang an hatte es starke Schlagseite nach links, und es ist nie mehr ins Gleichgewicht gekommen. Sogar Flaschen sind umgefallen.“

Von den Fahrgästen, die in Kemondo Bay zugestiegen waren, hatten viele keine Tickets. Sie sind auf keiner Passagierliste verzeichnet. Offizielle Schätzungen über die Zahl der Toten aber beruhen nur auf den Listen, die in Bukoba ausgefüllt worden waren.

Der Bauer Alexander Abel wollte wie viele seiner Mitreisenden nach Mwanza fahren, um dort auf dem größten Markt der Region seine Produkte zu verkaufen. „Ich hatte Bananen dabei. Die Crew hat mir gesagt, ich soll sie in die Mitte des Frachtraums legen. Aber die Ladung war nicht vertäut. Ganz kurz hinter Kemondo Bay kam alles ins Rutschen.“

Schiffsreisen über den Victoriasee sind oft mit einem hohen Risiko verbunden. Erst am 25. April ist ein überfülltes Schiff in Uganda gekentert: 81 Passagiere starben, nur 6 konnten lebend geborgen werden. Schlechte Ausrüstung, unzureichende Wartung und der systematische Bruch von Sicherheitsvorschriften sind Mängel, die seit langem öffentlich bekannt sind. Verantwortliche, so lautet jetzt der Vorwurf in den Anrainerstaaten des Victoriasees, Tansania, Kenia und Uganda, reagieren auf Beschwerden über Sicherheitsmängel gar nicht – oder zu spät. Der Bevölkerung bleibt keine Wahl: Die Straße zwischen Bukoba und Mwanza ist in katastrophalem Zustand. Einen regelmäßigen Flugverkehr gibt es nicht.

Das Kentern der „Bukoba“ hatten viele Passagiere noch überlebt. Von innen klopften sie an den Schiffsrumpf, um sich bemerkbar zu machen. Da veranlaßten Verantwortliche der Eignergesellschaft TRC, daß ein Loch in die Wand gebohrt wurde, um die Fahrgäste zu retten. Drei Männer konnten geborgen werden – dann drang Wasser in das Wrack. Binnen weniger Minuten war die Fähre vollständig unter der Oberfläche versunken.

„Die Offiziellen, die da waren, wußten nichts“, klagt der Geschäftsmann Hussein Sherally die zuständigen TRC-Vertreter an. „Sie sind von einem Fischer davor gewarnt worden, ein Loch in den Rumpf zu bohren, aber sie haben es trotzdem getan. Und die Leute haben doch noch gelebt! Sie konnten doch noch an die Wand klopfen!“ – „Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?“ hält Kapitän Cleophas Magoge, TRC-Manager in Mwanza, dem Vorwurf entgegen. „Das Schiff sank sehr schnell. Es war die einzige Möglichkeit, wenigstens noch einige Leute zu retten. Wenn wir Schwimmtanks gehabt hätten, um die Fähre über Wasser zu halten, dann wäre es etwas anderes gewesen. Aber wir hatten keine.“

Die Hafenbehörden verfügen über so gut wie keine Rettungsgeräte: „Wir haben keine Hubschrauber, wir haben keine Schnellboote, wir haben keine Schweißgeräte, mit denen man unter Wasser arbeiten kann“, erklärt Kapitän Magoge. Drei ausgebildete Taucher gebe es in Mwanza. „Aber zwei waren am Tag des Unglücks woanders eingesetzt, so daß nur einer hinunter zum Wrack konnte. Aber der konnte auch nichts machen. Alle Zugänge waren blockiert.“

Hat Cleophas Magoge jemals auf die katastrophale Ausstattung des Hafens hingewiesen? Hat er je eine bessere Ausrüstung gefordert? Der TRC-Manager lächelt müde. „Wenn man etwas haben will, dann muß Geld dafür da sein. Es ist aber keines da. Unsere Ausrüstung ist nicht schlechter als die an allen anderen Häfen am Victoriasee. Das ist hier normal.“