■ Die Sudetendeutschen behindern noch immer die deutsch-tschechische Aussöhnung. Und Kohl schweigt dazu
: Tschechien? Wo liegt das?

Alle Jahre wieder treffen sich Pfingsten die Sudetendeutschen. Diesmal findet der Sudetendeutsche Tag, eine Veranstaltung mit recht zweifelhafter Tradition, in Nürnberg statt, und wie stets steht damit auch das politische Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien auf der Tagesordnung. Denn die Sudetendeutsche Landsmannschaft ist mit Hilfe ihrer CSU-Lobbyisten zum mitbestimmenden Faktor der beiderseitigen Beziehungen geworden.

Wie weit dieser Einfluß in Zukunft noch reichen wird, mag von vielen, auch europäischen Faktoren abhängen und auch davon, ob es der tschechischen Seite gelingt, durch geschicktes Agieren den Anmaßungen Bonns entgegenzuwirken. Auf die deutsche Öffentlichkeit, auf Jugend- und Gewerkschaftsverbände, Kirchen und Intellektuelle zu setzen, ist dabei wohl zwecklos. Daß die Münchner Landsmannschaftsriege jahrelang die Normalisierung des beiderseitigen Verhältnisses erfolgreich behinderte, hat hierzulande kaum jemand wahrgenommen.

Dabei fällt auch der Faktor Kohl ins Gewicht. Weder die Gesten und Beschwörungen des tschechischen Präsidenten Václav Havel noch das Zureden des früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker, noch praktische Erfolge in den wirtschaftlichen Beziehungen konnten den Kanzler aus der Reserve locken. Tschechien? Wo liegt das?

Man stelle sich vor, welchen Aufschrei es in Deutschland gegeben hätte, wenn Bonn den Polen regelmäßig die Lektion erteilt hätte, sie müßten sich zuerst mit den Schlesier- und Ostpreußenverbänden einigen, bevor an eine vollständige Normalisierung zu denken sei. Doch ähnliches meinte Bonn sich gegenüber den Tschechen herausnehmen zu können.

Vor einem Jahr, beim letzten Treffen der Landsmannschaft in München, wagte sich Antje Vollmer in die Höhle des Löwen. Es war ein Sprung über den eigenen altbundesdeutsch-linken Schatten. Stellvertretend für viele andere, die bis dahin beim Wort „sudetendeutsch“ den Mund verzogen, als hätten sie gerade in ein Stück Zitrone gebissen, redete sie dem harten Sudetenkern zu. Das Ergebnis ihrer gutgemeinten Intervention ist bekannt. Sie wurde ausgepfiffen und mit Worten attackiert, deren Herkunft in der Zeit um 1938 zu suchen wäre, als mit der ausgestreckten Rechten so manch weißbekniestrumpfter Volksgenosse in Reichenberg und Karlsbad die demokratische Tschechoslowakei zu Grabe trug und seine Heimholung ins Tausendjährige Reich feierte.

In diesem Jahr werden wir wieder viel vom Heimatrecht hören. Auch davon, daß den zurückkehrenden Sudetendeutschen die doppelte Staatsangehörigkeit zustehe, dies ausgerechnet aus dem Munde von Politikern, die eine analoge Forderung für Einwanderer in Deutschland seit Jahren bekämpfen. Selbstverständlich soll gleich auch ein Volksgruppenrecht für Deutsche in Tschechien, möglichst mit dem Status des zweiten Staatsvolkes eingerichtet werden. Auch verhaltene Drohungen, den Beitritt der Tschechen in die Europäische Gemeinschaft zu behindern, falls sie sich nicht fügten, werden nicht zum letztenmal zu hören sein. Und um den Wunschzettel der Landsmannschaft zu vervollständigen, wird unverdrossen die Rückerstattung des nach dem Krieg beschlagnahmten Eigentums angemahnt – eine Forderung, die, würde sie realisiert, den tschechischen Staat aus den Angeln heben könnte. Auch der Vergleich mit den „ethnischen Säuberungen“ in Exjugoslawien wird nicht fehlen, mit dem von Ursache und Wirkung, die nach 1945 zur Vertreibung führte, abgelenkt werden soll.

Taktlos fast schon die kleine Zwischenfrage, ob es so etwas wie einen Zweiten Weltkrieg gegeben hat, und wenn ja, ob die Verursacher der europäischen Katastrophe die östlichen Nachbarn der Deutschen waren und nicht Hitler und seine Anhänger.

Nicht nur die Berufsvertriebenen leiden an Halsstarrigkeit. Antagonistische Brüder im Geiste finden sich auch jenseits des Böhmerwaldes. Sie haben in der Wahlkampagne zu den am kommenden Sonntag bevorstehenden Parlamentswahlen gezeigt, was sie können. Doch bedenkt man die Unverfrorenheit der Sudetenforderungen, ist die gelassene Haltung des offiziellen Prag beinahe bewundernswert. Auch das tschechische Wahlvolk dürfte sich weiterhin an die gemäßigten Parteien halten, statt sich unter dem Eindruck von Vertriebenen sudetendeutscher Stimmen den Extremisten auszuliefern.

Die sudetendeutschen Funktionäre werden weiterhin so tun können, als sprächen sie für alle nach 1945 vertriebenen Deutschböhmer und Deutschmährer. Das enspricht freilich nicht der Realität. Die Gegenstimmen aus den eigenen Reihen bleiben merkwürdig leise und von unterschiedlichen Interessen bestimmt. Peter Becher zum Beispiel, dessen (sudetendeutscher) Adalbert-Stifter-Verein sich in den letzten Jahren große Dienste um den Kulturdialog zwischen Deutschen und Tschechen erworben hat, möchte lieber als einzelner seine Kritik an den Hardlinern in den oberen Etagen des Münchener „Sudetendeutschen Hauses“ äußern. Und der SPD-Intellektuelle (und Sudetendeutsche) Peter Glotz läßt nicht unerwähnt, daß er das letzte Mal an dem traditionellen Pfingsttreffen nur in seiner Eigenschaft als Staatssekretär der Schmidt-Regierung teilnahm.

Widersprüchliche Motive scheinen die kritischeren Sudetendeutschen daran zu hindern, sich deutlicher von ihren selbsternannten Sprechern zu distanzieren: Berührungsängste mit dem miefigen Milieu, dem sie entronnen sind, und manchmal doch wieder partielle Übereinstimmung mit den politischen Forderungen der Landsmannschaft. Und nicht zuletzt auch tiefsitzende Stammesloyalität, gestärkt durch das gemeinsame „Vertreibungsschicksal“ der Elterngeneration.

Daß dabei das vielleicht wichtigste Potential der aus Mähren und Böhmen Vertriebenen, nämlich die produktive Kraft Heimweh zerstört wird, dürfte besonders die Funktionäre freuen. Denn aus ihr umgesetzte praktische Versöhnungsbereitschaft der Menschen auf der „unteren“ Ebene könnte ihre politische Legitimation und ideologische Kontrolle in Frage stellen. So manches aus der Initiative ehemaliger deutscher Bewohner Tschechiens entstandene gute Werk steht auf wackeligen Füßen, solange der mächtige deutsche Nachbar womöglich mit dem Gedanken spielt, mit Hilfe der Vertriebenenverbände Angst in Tschechien zu schüren. Richard Szklorz