Alle 17 Sekunden ein Verbrechen

Südafrika zählt zu den gewalttätigsten Staaten der Welt. Nach dem zweiten Überfall droht ein Botschafter, das Land zu verlassen. Der Regierung macht er schwere Vorwürfe  ■ Aus Johannesburg Kordula Doerfler

Charbel Stephan war gerade im Bad, als er seinen Neffen Mansour nach ihm rufen hörte. Als er die Treppe in seinem Haus hinunterging, sah er fünf fremde Männer. Einer hielt Mansour einen Gewehrlauf an die Schläfe. Dann fesselten sie Charbel Stephan, der ohnmächtig zusehen mußte, wie sie Schmuck, Kleider und technische Geräte in große Taschen stopften. Obwohl Stephan keinerlei Widerstand leistete, schlugen sie ihn anschließend zusammen. Als es ihm gelang, den sogenannten „Panic button“ zu drücken, der die Alarmanlage auslöst, flohen die fünf Männer. Charbel Stephan mußte sich nach dem Überfall am Sonntag abend, dem zweiten binnen zehn Tagen, im Krankenhaus behandeln lassen.

Jetzt droht er damit, Südafrika zu verlassen und wirft der Regierung vor, nichts zu tun, um die Sicherheitslage zu verbessern. Die Regierung muß diese Drohung ernst nehmen, denn Charbel Stephan ist kein gewöhnliches Opfer von Kriminalität. Der 46jährige ist der diplomatische Vertreter des Libanons in Südafrika. Sein Haus liegt im reichen Johannesburger Stadtteil Houghton, nur drei Straßen weiter wohnt Nelson Mandela.

Stephan, der jetzt im Libanon ist, um dort mit der Regierung über das Problem zu beraten, macht der südafrikanischen Regierung massive Vorwürfe, daß sie ausländische Diplomaten nicht genug schütze. Mindestens zehn andere Botschaften seien in letzter Zeit überfallen worden, sagt Stephan wütend. „Ich gehe, ich habe genug.“ Mit seiner Kritik trifft er Südafrikas Regierung an einer empfindlichen Stelle. Südafrika zählt heute zu den gewalttätigsten Ländern der Welt.

Statistisch gesehen, wird in Südafrika alle 17 Sekunden ein schweres Verbrechen begangen. Alle sechs Minuten findet ein Raubüberfall statt, täglich fallen 50 Menschen einem Mord zum Opfer. Auch der Machtwechsel vor fast zwei Jahren, als Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt wurde, hat daran nichts geändert. Obwohl sich die Republik am Kap in vielen Bereichen zu stabilisieren beginnt, schnellen die Kriminalitätsraten unaufhaltsam in die Höhe. Eine landesweite Steigerung von mehr als 11 Prozent weist die Polizeistatistik für das vergangene Jahr aus, für Johannesburg liegt die Zahl bei 27 Prozent. Vor allem Einbrüche in Häuser, bewaffnete Raubüberfälle, Carnapping und Vergewaltigungen haben stark zugenommen. Ein Großteil der Verbrechen ist heute nicht mehr politisch motiviert, sondern soziale Gewalt in einem Land, in dem Erste und Dritte Welt oft hart aufeinanderprallen; tatsächlich ist die politische Gewalt in allen Landesteilen seit den Wahlen zurückgegangen.

Doch die Regierung muß handeln, nicht nur wegen der Bedrohung der eigenen Bevölkerung, sondern auch, weil das internationale Ansehen Südafrikas gefährdet ist. Die heiß ersehnten ausländischen Investoren geben als einen Grund für ihr Abwarten die hohe Kriminalität an. Schon für Anfang dieses Jahres hatte die Regierung ein umfassendes Konzept zur Kriminalitätsbekämpfung versprochen. Am Mittwoch wurde die „Nationale Strategie zur Verbrechensverhinderung“ endlich vorgelegt. Schon der Titel des 88seitigen Papiers verrät, wo künftig der Schwerpunkt sein soll: Kriminalität soll am besten verhindert werden. „Die Strategie beruht auf der Ansicht, daß wir eine neue Gesellschaft aufbauen müssen, anstatt einfach etwas zu normalisieren, was nie normal war“, heißt es darin. Sieben Schwerpunktbereiche von Verbrechen sind in dem Papier genannt: Verbrechen mit Feuerwaffen, organisierte Kriminalität, Korruption, Gewalt gegen Frauen und Kinder, Autodiebstähle und -entführungen und Korruption innerhalb der Justiz.

Künftig sollen alle betroffenen Ministerien gemeinsam dafür sorgen, daß Verbrechen effektiver geahndet werden und in der Bevölkerung ein Bewußtsein entsteht, das Kriminalität nicht duldet. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Südafrikas Gefängnisse sind so überfüllt, daß rechtskräftig verurteilte Täter keine Haft absitzen müssen. Das gesamte Justizsystem ist veraltet, langsam und korrupt. Darüber hinaus gehören Polizisten zu den am schlechtesten bezahlten Berufsgruppen in Südafrika. Immer wieder führen polizeiliche Ermittlungen zu den eigenen Kollegen, die sich etwa durch Autodiebstahl ihr Gehalt etwas aufbessern wollen. Das zumindest wird sich ab Anfang Juli ändern. Bereits vor einigen Wochen hat Polizeichef George Fivaz eine Gehaltserhöhung von bis zu 40 Prozent angekündigt.