Der Bundesnachrichtendienst rangierte bislang unter den ersten drei im weltweiten Abhörgeschäft. Ausgerechnet sein oberster Dienstherr, Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU), zeichnet nun ein anderes Bild. In einem Schreiben an das Bundesverfassungsgericht bestreitet er, daß der BND über ausreichende Möglichkeiten der Telefonüberwachung verfügt. Eine Tiefstapelei, um das Verbrechensbekämpfungs-Gesetz zu retten? Von Hermann Rheindorf

Liebesdienst am BND

Übernimmt der designierte Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Hansjörg Geiger, einen Schrotthaufen, oder ist der BND in Wahrheit einer der technisch am besten gerüsteten Nachrichtendienste der Welt? Über die Antwort wurde in der Vergangenheit nie ernsthaft gestritten. Geheimdienstexperten zählten die Ausrüstung der Pullacher Behörde stets zu den Top 3 im weltweiten Abhörgeschäft.

Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU), bis dato ausgewiesener Sympathisant der BND- Abhörtechnik, beurteilt die technischen Möglichkeiten des Dienstes gegenüber dem Bundesverfassungsgericht neuerdings ganz anders und sorgt damit unter Experten für Wirbel. In einem erst jetzt bekanntgewordenen Schreiben vom 5. 9. 1995 an die Richter des 1.Senats zeichnet der Minister ein Bild der Unfähigkeit des BND auf dem Gebiet der Telefonüberwachung. Der BND sei bis heute außerstande, den grenzüberschreitenden Telefonverkehr Deutschlands mit Hilfe sogenannter „Wortbanken“ zu überwachen.

Der Einsatz der als „Staubsauger im Äther“ bekannten Abhörtechnik war 1994 mit dem Verbrechensbekämpfungs-Gesetz beschlossen worden und galt für die Bundesregierung als „Trumpf“ im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen. In internen Papieren des Bundeskanzleramtes wurde gar das Ende der Mafia prophezeit.

Das Bundesverfassungsgericht prüft bereits seit einem Jahr, ob die Methode der computergesteuerten Rasterfahndung in den Auslandsgesprächen unverdächtiger Bürger gegen das Grundgesetz verstößt. Der Hamburger Strafrechtsprofessor Michael Köhler hatte geklagt, sein Vorwurf: der BND sei „auf dem Weg zu einer neuen Geheimpolizei, die wahllos und massenhaft abhöre“. „Betroffen“, so Köhler, sei „jeder, der eine OO vorwähle“. Das Telefongeheimnis des Grundgesetzes sei damit „praktisch aufgehoben“.

Artikel 10 Grundgesetz ist nach wie vor dafür da, die Telefongespräche der Bürger, egal wohin, vor Eingriffen durch den Staat zu schützen; die Beschränkung auf die Auslandstelefonate bedeutet nicht, daß nur ein ganz kleiner Kreis von Bürgern betroffen ist. Im Zeitalter der globalen Kommunikation bieten die Auslandstelefonate für den BND bereits ein riesiges Betätigungsfeld. Über eine Milliarde Mal pro Jahr telefonieren Deutsche ins Ausland, fast drei Millionen Gespräche und Faxe täglich.

Zehn Datenschutzbeauftragte aus Bund und Ländern teilten in ihren Stellungnahmen an Karlsruhe die schweren Bedenken Köhlers. Die Folge: Das Gericht machte dem BND in einer Eilentscheidung Auflagen für die Weitergabe der abgehörten Daten an die Polizei und kündigte an, den schwerwiegenden Vorwürfen nachzugehen. Kanther reagierte prompt und setzte zur Überraschung der Fachwelt zum Rückzug an. Er erklärte den Karlsruher Richtern schriftlich: die Größenordnung der Überwachung liege um „mehrere Dimensionen unter der angenommenen Zahl“. Zudem sei eine „maschinelle Filterung des Telefonverkehrs“ mit Hilfe von Wortbanken vorerst „nicht möglich“, der BND erfülle seinen Abhörauftrag deshalb durch den Einsatz von „Menschen“. Im Klartext: manuell.

Zwei Jahre zuvor hatte der Vizepräsident des BND, Gerhard Güllich, die Möglichkeiten seines Hauses noch in einem rosigeren Licht erscheinen lassen: „Mit unserer technischen Aufklärung können wir Fernmeldeverkehre über Kurzwelle, Richtfunk und Satelliten empfangen, also alles, was nicht leitungsgebunden ist. Aus der Masse der Informationen filtern wir mit Hilfe von Wortbankensystemen das heraus, was für uns von Interesse ist und im Auftrag des Dienstes liegt.“

Die demonstrierte Offenheit Kanthers könnte sich zu einem politischen Eigentor entwickeln, denn bereits nach dem derzeit geltenden Verbrechensbekämpfungs-Gesetz wäre diese Abhörmethode unzulässig. Der Bundestag hatte 1994 beschlossen, zur Überwachung des internationalen, nicht leitungsgebundenen Fernmeldeverkehrs computergestützte Wortbanken einzusetzen. Das Prinzip: Die über Satelit, Richtfunk oder Funk laufenden Auslandsgespräche werden wie von einem Staubsauger festgehalten und gepuffert. Spracherkennungscomputer klopfen das abgesprochene Wort Satz für Satz auf vorher festgelegte verdächtige Stichworte ab. Erst wenn in dem gefilterten Gespräch tatsächlich verdächtige Stichworte fallen, schlägt das System Alarm und zeichnet das Gespräch auf. 16 Abhörstationen in ganz Deutschland stehen dem BND dafür zur Verfügung. Meist firmieren sie unter der Tarnbezeichnung „Bundesstelle für Fernmeldestatistik“ (vgl. Grafik).

In Kanthers Schreiben an das Bundesverfassungsgericht ist von der BND-Technik, über deren Einsatz die Richter schließlich befinden sollen, weit und breit nichts mehr zu sehen. Statt dessen, so Kanther, werde jedes empfangene Auslandsgespräch aufgezeichnet und „anschließend durch Mitarbeiter des BND abgehört und dabei mit den Suchbegriffen abgeglichen“. Im Klartext: Die vorherige Nennung bestimmter Stichwörter spiele für eine Aufzeichnung keine Rolle. Gleiches gelte für den Bereich Telefax. Auch hier könne die „Auswahl anhand der Suchbegriffe vorerst nur im Wege der Sichtung durch Mitarbeiter des BND geleistet werden“. Im Klartext: Geschäftsleute müssen es sich beispielsweise gefallen lassen, daß ihre vertraulichen Auftragsfaxe ins Ausland pauschal von BND-Mitarbeitern gelesen werden. Gleiches gilt für Journalisten, Wissenschaftler, Ärzte, Politiker und Touristen, also für jeden, der Auslandskontakte pflegt. Ausnahmen gibt es keine.

„Das darf nicht sein, nach der Gesetzeslage“, wundert sich der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Joachim Jacob, über die Ausführungen des Ministers. Und der Bielefelder Verfassungsrechtler Christoph Gusy stellt fest, dies habe der Bundestag nicht beschlossen. „Das ist derart eindeutig nach dem Gesetz. Nur die Gespräche, in denen bereits bestimmte Stichworte gefallen sind, stehen überhaupt für Aufzeichnungs- und Auswertungsmaßnahmen zur Verfügung.“ In der Begründung des Gesetzes wird davon ausgegangen, daß „dies nach dem derzeitigen Stand der Technik durch die Eingabe entsprechender Suchbegriffe in sogenannten Wortbanken sicherzustellen sein“ werde.

Wußten die Abgeordneten überhaupt, was sie mitten im Superwahljahr ohne größere Debatte beschlossen hatten? Prof. Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes Hannover, war am Gesetzgebungsprozeß als Experte beteiligt und bezweifelt das. „Die meisten Abgeordneten haben nicht mitbekommen, daß es hier um ein massenhaftes Abhören von völlig harmlosen Gesprächen geht. Dem Innenminister muß ich vorwerfen“, so Pfeiffer, „daß er den Abhörauftrag im Gesetz bewußt getarnt hat. Da trifft der Begriff ,Trojanisches Pferd‘. So stelle ich mir tiefgreifende Veränderungen in unserer Republik nicht vor.“

Um dem Vorwurf der verdachtslosen Massenüberwachung entgegenzutreten und das Verbrechensbekämpfungs-Gesetz zu retten, durchbrach Kanther sogar die Tradition, sich an öffentlichen Spekulationen über Staatsgeheimnisse nicht zu beteiligen. Zum ersten Mal überhaupt verkündete Kanther eine offizielle Zahl, wieviel Telefonate der BND insgesamt abhören könne. In dem Schreiben heißt es: „So wie die technischen Kapazitäten des BND beschaffen sind, dürfte es [...] möglich sein, täglich ca. 3.000–4.000 Fernmeldeverkehrsvorgänge [...] zu überprüfen. Die Zahl bezieht sich auf alle Fernmeldeverkehrsvorgänge, die aufgrund der beschränkten Kapazitäten überhaupt empfangen und aufbereitet werden können.“ Im Klartext: Maximal 4.000 pro Tag, damit sei die Kapazität sämtlicher BND-Empfangsgeräte erschöpft.

„Diese Zahl kann nicht stimmen“, sagt Dr. Horst Männchen, Generalmajor der ehemaligen DDR-Staatssicherheit. 4.000 pro Tag, das möge für den Laien bereits viel klingen, aber, wie Männchen vorrechnet, „in einer Minute sind das noch nicht einmal drei Gespräche. Und wer behauptet, der BND schaffe mit mehr als einem Dutzend Abhörstationen nur drei Gespräche in jeder Minute, der hat keine Ahnung.“

Die angebliche technische Unfähigkeit des BND trifft auch in der High-Tech-Industrie des Westens auf Unverständnis. Denn die ist längst in der Lage, dem BND die entsprechende Computertechnologie zu liefern, damit er seinen Abhörauftrag im Sinne des Gesetzes erfüllen kann. „Wir fühlen uns durchaus in der Lage“, so IBM- Manager Siegfried Kunzmann auf Anfrage, „ein System aufzubauen, das solche Leistungen kennt. Auch in dem Umfang.“ (vgl. Interview)

Warum Innenminister Kanther dem Verfassungsgericht weiszumachen versucht, diese Technik existiere nicht, bleibt bis auf weiteres sein Geheimnis. Auf die schriftliche Bitte um Stellungnahme kommt aus dem Ministerium die Antwort, man sei „überhaupt nicht zuständig“. Auch im G-10-Kontrollgremium des Deutschen Bundestages herrscht Funkstille. Laut Verbrechensbekämpfungs-Gesetz müssen die geheim tagenden Abgeordneten jährlich einen Bericht über die BND-Telefonüberwachung vorlegen. Der erste Bericht dieser Art ist bereits seit einem halben Jahr überfällig. Es entsteht der Eindruck, als seien die Abgeordneten ausgerechnet in diesem sensiblen Bereich besonders nachlässig.