Verhinderte Verständigung

■ Im Hebbel-Theater war „Das D'Amato-System“ zu sehen, eine Tanzoper mit Gebärdensprache von Helmut Oehring

Ein dumpfes Grollen kriecht von unten in den Zuschauerraum. Brustkörbe vibrieren, fast unmerklich. Klang umzingelt das Publikum, im Wellensalat erklingen ferne Stimmen, dann krachen Schläge eigentümlich körperlich gegen die Rippen. Schön, doch was hat das mit Boxsport zu tun?

Helmut Oehring gibt mit dem Titel seines neuen Musiktheaters weitreichende Vorgaben. Ausgerechnet Cus D'Amato, den ersten Trainer des Bad-Boy-Boxers Mike Tyson, erwählt er zum Paten seiner Tanzoper – „Das D'Amato-System“. Es sei, erklärt der Komponist, mit seiner Begeisterung fürs Boxen kokettierend, genau diese Gleichzeitigkeit von Angriff und Verteidigung, das fließende Ineinander von vorwärts und zurück, das dem musikalischen Prozeß den Rahmen setze. Ahh, ja.

Solcherart mit Erwartungen belastet, sitzt es sich einigermaßen belämmert im Zuschauerraum des Hebbel-Theaters. Denn auch auf der Bühne geschehen undurchsichtige Dinge. Rotweiße Absperrungspfähle kreuzen die Szenerie. Eine Art Fensterkreuz wird in die Luft geleiert, während sich ein riesiger Stahlrahmen unheilvoll über das Publikum senkt. Das Kammerensemble Neue Musik (Leitung: Roland Kluttig), das schon sein Gründungskonzert 1987 mit einem Werk von Oehring bestritt, spielt hinter transparentem Vorhang eine Musik, die noch während des Entstehens durch ein kompliziertes Surround-System geschickt elektroakustisch verzerrt und räumlich gegliedert wird. Alles sehr komplex. Und höchst merkwürdig.

Helmut Oehring ist ein Komponist, der derzeit in den Feuilletons als „der ganz andere“ hofiert wird. Einerseits ist er mit seinen 35 Jahren ein recht junger in der greisen Schar der neuen Musik, andererseits ist er Selfmademan im erstaunlichen Sinne. Als hörender Sohn gehörloser Eltern scheint er für Musik nicht gerade disponiert. Und vom Ballast übermächtiger Traditionen ist er frei, nennt als erste Erfahrungsquelle die Puhdys, schwört auf Queen. Helmut Oehrings Muttersprache ist die Grammatik der Gebärden, und in seinem schon recht umfangreichen Werk sind Musik und Sprache zuallererst auch immer Bewegung.

So auch diesmal. Die Textpartien, die als Versatzstücke (es gibt keine Handlung) durch den Raum geistern, sind originäre Texte der Gebärdensprache. Übersetzt in die Lautsprache der Hörenden, erscheinen die Texte monologisch, einsam, beschädigt: „Heute bekam, ich habe Angst. Oh, wie schriebst mir, hast mich zu schreiben, ganz bin ich sehr froh, da ist sehr freundliche Mensch. Mann...“ Eindrücklich, bewegend. Doch von Boxsport keine Spur. Helmut Oehrings neues Stück ist vielmehr ein neues Stück über Helmut Oehring. Getreu seiner Devise, daß wirkliche Verständigung nicht möglich ist, thematisiert es Einsamkeit, die Unmöglichkeit der Nähe, die Verletzlichkeit des Menschen. Doch die unhörbaren Botschaften ersticken im technisch- medialen Overkill, und die Gesamtkonzeption des Musiktheaters (Regie: Maxim Dessau) erscheint gegenüber früheren Helmut Oehrings ziemlich aufgebläht.

Neben der gehörlosen Sprecherin Christina Schönfeld, deren Gebärden von intensiver Ausdruckskraft sind, wirken der Tänzer und die Tänzerin (Dimitri Tsiapkinis und Chiara Bortoli) wie überflüssig imitierende Marionetten. Und die Musik ist so richtig bewegend auch nur dann, wenn sie das komplizierte Surround-System für Momente verläßt, in der dumpf-einlullenden Seligkeit beinharter Metal-Intermezzi, im selbstvergessen atemlosen Kindergesang der beiden Sängerinnen Salome Kammer und Anna Clementi.

Am Schluß bleibt wenigstens darüber kein Zweifel: Hier ist Verständigung tatsächlich verhindert, selbst verhindert durch sinnentleertes Beiwerk zu einer ursprünglich faszinierenden Idee von Musik. Bleibt die Frage, was das alles mit Cus D'Amato zu tun hat. Christine Hohmeyer