Den Mississippi sehen!

Das Gefühl von „Go west“: Eine Reise durch schwarze Communities und den Chemical Corridor  ■ Von Balduin Winter

Den Mississippi sehen, den „Vater der Ströme“ – dieser Gedanke hatte sich in mir eingenistet, seit wir den Interstate 51 zwischen Jackson, der Hauptstadt des Bundesstaates Mississippi, und New Orleans verlassen hatten.

Auf einer Landstraße fahren wir in Richtung Natchez, dem alten Sitz der Baumwollbarone am großen Strom. Meine Begleiterin Andrea erteilt mir Lektionen über Sklaverei, Rassentrennung und die weiterhin existierende Segregation, kaum ein Ort, zu dem sie nicht auch eine handfeste, oft mörderische Geschichte weiß.

Den Mississippi sehen. Mit dieser fixen Idee geistern mir ganz andere Geschichten durch den Kopf als jene, die Andrea mir berichtete – Geschichten von Mark Twains Huckleberry Finn, meinem Kindheitsideal, von Nelson Algreens wild bewegtem Trip durch den Süden („A Walk on the Wild Side“), von William Faulkners auf dem Strom rudernden Sträfling („Old Man“), vom scheuen Boo Radley aus Lee Harpers „Wer die Nachtigall stört“ – ich kenne also den Süden, zumindest von der weißen Literatur her.

Andrea biegt ab, wir fahren durch lichte Wäldchen mit hohen Bäumen und an umgepflügten Feldern vorbei. In den rein schwarzen Communities zwischen dem Strom und dem National Forest am Homochitto River gibt es noch „kleine“ Bauern. Mittelmäßige Bodenqualität und der Charakter der Landschaft haben hier die Anlage großer Pflanzungen verhindert. Dann und wann Farmen, kleine, oft windschiefe Gebäude, auf Ziegelsockeln aufgebockt zum Schutz vor Hochwasser und zur Gänze aus groben Holzplanken errichtet, meist mit einer überdachten Veranda an der Vorderfront und ein paar Anbauten, Holzverschläge für Gerätschaften, Wagen und Brennholz. Irgendwie erinnern mich diese armseligen Bauten an – Andrea spricht es aus: „Dritte Welt, nicht wahr?“ und, nach einer Pause, mit ganz anderer Stimme, Wärme und Trotz: „Meine Welt. Meine Heimat.“

Wenige Meilen von hier befindet sich eine andere Welt. Das heute bedeutungslose Städtchen Natchez war vor über hundert Jahren ein zentraler Umschlagplatz für „König Baumwolle“. Riesige Schiffe von Cincinnati, St. Louis und New Orleans legten im Hafen an, um Baumwolle zu laden. Den einstigen Reichtum der Region demonstrieren die zahlreichen Herrenhäuser in und um die Stadt. 39 dieser Prunkbauten existieren noch, darunter so pompöse wie Dunleith mit Doppelgalerien und Massivsäulen rund um das Gebäude, so verrückte wie Longwood mit einer orientalischen Kuppel, so prätentiös ausgestattete wie Stanton Hall mit riesigen Spiegeln und französischem Mobiliar.

Von ihrer Kindheit spricht Andrea, von der kleinen Gemeinde beim Old Man Lake, einer alten Flußschleife des Mississippi; von ihrer Großmutter, die Quilts herstellte, aus Stoffresten genähte Flickendecken, ein uraltes Kunsthandwerk. Der Großvater, Basketmaker, flocht aus den Gerten junger Weißeichen Körbe und Geflechte für die Lehnen und Sitzflächen von Sesseln und Schaukelstühlen. Ihr Vater bestellte mit den älteren Brüdern die paar Felder, angebaut wurde, was man brauchte. Sie hatten eine alte Zuckerrohrpresse und ein unendlich geduldiges Maultier, das im steten Kreisgang den Knebel der Presse drehte. Das Quietschen der Presse, das Splittern des zerquetschten Rohrs, das Knirschen der trockenen Sorghumblätter unter den Hufen des Maultiers, diese Geräusche habe sie noch im Ohr, als habe sie sie erst gestern gehört. Ja, und der Wind, dieser streunende Vagabund, und dieser riesige, hohe Himmel, der allen gehört, in dem sich alle Traurigkeit und alle Träume versenken ließen. Auch jener Wunsch nachzuforschen, was hinter der Linie liegt, wo der Himmel am Horizont der Erde angepflockt ist.

Plötzlich lichten sich die Bäume, vor uns der Homochitto River, ein Karrenweg führt durch das Ufergestrüpp hinunter zu einer Hütte, die auf mehreren miteinander vertäuten Holzpontons steht – ein altes Hausboot. Auf den Stühlen neben dem Eingang sitzen vier alte Männer mit biblischen Gesichtern. Sie rauchen, klopfen mit den Füßen den Takt und wiegen ihre Körper im Rhythmus der getragenen Melodie, die ein weiterer Alter auf einer Fiedel spielt. Doch was für ein Instrument: eine rechteckige Zigarrenbox, ein Schalloch hineingeschnitten, ein geschnitzter Steg angeleimt und bespannt mit vier Saiten, der Bogen eine halboval gespannte Rute. Manchmal, wenn ein Windhauch über die lehmbraune Wasserfläche fährt, erschauert der Fluß vor der Melancholie des Liedes.

Stromabwärts, 80 Meilen südlich, liegt Baton Rouge, die Hauptstadt von Louisiana. Auf der Route Nr. 61 von Norden kommend, fährt man kilometerlang an Tanklagern und Produktionsstätten vorbei. Der Mammutkonzern Exxon hat hier seine größte Raffinerie, Texaco ist mit zwei Werken vertreten. Louisiana ist nach Texas der zweitgrößte Erdölproduzent der US-Staaten.

Die Strecke zwischen Baton Rouge und New Orleans, etwa 100 Meilen, wird als „Chemical Corridor“ bezeichnet. Hier hat sich alles, was in der chemischen und petrochemischen Industrie Rang und Namen hat, angesiedelt, auch Niederlassungen europäischer Konzerne wie Unilever, Ciba Geigy, Bayer und Hoechst sind hier zu finden.

In Andreas Geburtsort kaufen wir Wein in Lenwood's Country Store, einem grob gezimmerten Laden jenseits aller Supermarket- Herrlichkeit, mit verrosteten Werbeschildern aus den 50ern („Drink Barg's Beverages!“, „Royal Crown Cola“...) an den Wänden. Das Lokal beeindruckt in seiner strengen Ausrichtung auf die örtlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens. Hier kann man Bananen und Bluejeans ebenso erstehen wie Ersatzteile für Pflüge und Fischerhaken. Der Ofen auf vier gußeisernen, geschwungenen Füßen und die Registrierkasse mit Messingknöpfen und einer großen Kurbel verleihen dem Raum einen gewissen Charme. Überhaupt strahlt der Ort feierabendliche Geruhsamkeit und Freundlichkeit aus, obwohl viele Geschichten, die ich an diesem lauen Winterabend zu hören bekomme, alles andere denn idyllisch sind. Diese alltäglichen Geschichten von Mißernten und Hunger, von Hochwasser und Überfällen.

Und am nächsten Tag sehe ich ihn. Am Broadway in Natchez hält Andrea bei einem kleinen Park. Da steh' ich dann über dem Steilabfall, vor mir, unten, Seine Majestät Mississippi der Erste, einen Kilometer breit, dahinter ein dicht bewaldetes flaches Ufer, ein weiter Blick ins Louisiana hinein bis dorthin, wo der riesenhohe Himmel zum Horizont niedersinkt. Plötzlich wird mir klar, warum es die Menschen immer wieder in den Westen zieht: Go west. Wie eine Grenze liegt der Strom da, eine Grenze zwischen Bekanntem und Neuland, zwischen Bekanntem, das man hinter sich lassen möchte, und Neuland, das zu erforschen es einen drängt. Pioniere! deklamierte Andrea Walt Whitman und lachte aus dem tiefsten Süden ihrer Kehle.

In New Orleans trennen sich unsere Wege. Ich bleibe einige Tage, renne stundenlang durch die Straßen, vorwiegend im historischen Teil der Stadt, dem French Quarter. Unten am Mississippi finde ich bei einem Stand eine Ansichtskarte mit der „Streetcar Named Desire“, jener Straßenbahn, der Tennessee Williams mit „Endstation Sehnsucht“ ein Denkmal gesetzt hatte. Eine Karte an Andrea. Die Straßenbahn existiert längst nicht mehr.