Miles away

Über seinen Tod hinaus bleibt er der einflußreichste und streitbarste Leader der Jazzgeschichte: Heute wäre Miles Davis 70 geworden. Eine Bilanz  ■ Von Christian Broecking

Für die neokonservativen Jazzfundamentalisten ist er der Verräter an der Tradition, die schwarzseparatistische Kulturpolitik suchte den Popstar der Achtziger posthum als afroamerikanischen Nationalhelden gutzuschreiben; für die einen symbolisiert er den Abstieg des Jazz ins jugendkulturelle Schmuddelbusineß, für andere bleibt er schlicht der Leader; der Rest der Welt feiert ihn als den hipsten Jazzer aller Zeiten: Heute wäre Miles Davis 70 geworden. Und morgen auch, wenn man seiner Autobiographie trauen möchte. Doch da versagen die Lexika.

Auch vier Jahre nach seinem Tod laufen die Geschäfte des Miles Davis Estate, anderer Lizenznutzer und unzähliger Nichtautorisierter auf Hochtouren: T-Shirts, Fotobände, Autobiographien und Biographien, Bootlegs, Verkaufsausstellungen in Sachen „das malerische Werk“ – mit bunten Bildern, die sich sehen lassen wie Entwürfe für Plakate und Modedrucke (samt der obligatorisch überteuerten Skizzen aus dem Kritzelblock des Popstars) – machen die Runde und die Dollars. Jedes Jahr finden sich bisher unveröffentlichte Archivschnipsel, die es jetzt wert scheinen, auf CD feilgeboten zu werden, außerdem Konzertmitschnitte aus dem Spätwerk des Trompeters, als er längst hörbare Probleme hatte, sein Instrument zu händeln.

Monopoly des modernen Jazz

Jüngste Beispiele dafür sind die gerade erschienene CD „Live around the world“ (Warner), die akustische Mitschnitte seiner letzten Inszenierungen enthält, und die 8-CD-Box „The complete live at the plugged nickel 1965“ (Columbia), die zwei Konzerttage mit seinem legendären „zweiten Quintett“ vollständig dokumentiert. Mit dem „Zweiten“ ist die Combo der „modalen Phase“ gemeint, die ganz entscheidend den Davis- Sound der 60er Jahre geprägt hat. In diese Band hatte Davis junge Musiker geholt, die heute selbst als Leader und Legends bekannt sind: Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams. Es gab vor dem „zweiten“ zahlreiche andere Davis-Quintette, wie etwa das mit dem Pianisten Bill Evans, und es gab das „erste“, 1955, in dem damals ein junger Saxophonist namens John Coltrane spielte.

Die Musikgeschichte wäre anders verlaufen, vermuten Historiker heute, wenn Miles seine damaligen Pläne hätte verwirklichen können, statt Coltrane Sonny Rollins und Shorter bereits vier Jahre früher zu engagieren. Was sich hier wie ein Who-is-who-Monopoly des modernen Jazz liest, verweist vor allem auf die Qualität, die Miles zu jener historischen Musikerpersönlichkeit machte: Er war der Leader. Dizzy Gillespie soll es einmal so formuliert haben: „Schau dir Miles an und die Musiker, die mit ihm gespielt haben. Miles zieht Leader groß, und zwar viele.“

Miles hat wie kein anderer Musiker die verschiedenen stilistischen Wandlungen im Nachkriegsjazz gelebt und geprägt: „Bebop“ mit Charlie Parker, „Cool“ mit seinem Capitol Orchestra und den großorchestralen Aufnahmen mit Gil Evans, „Hard Bop“ und „Modal“ mit seinen diversen Quintetten und „Electric“ mit „Bitches Brew“; eine Aufnahme, die sich auch 25 Jahre nach ihrer Einspielung die Eigenschaft bewahrt hat, zu den schwerstverdaulichen der amerikanischen Musikgeschichte zu gehören. „You can't fuck around like old Beethoven“, so eine typische Antwort von Miles auf die Frage nach dem Einsatz elektronischer Instrumente, mit denen er seit Ende der 60er Jahre experimentierte.

Da Davis nicht nur als Bandleader und Trompeter, sondern auch als Komponist die Geschichte des Nachkriegsjazz mitgeschrieben hat, arbeiten sich Generationen von Jazzstudenten an den von ihm gesetzten Standards ab. Miles-Imitationen aus dem Repertoire der 50er und 60er Jahre machen sich immer noch ganz gut auf dem CD-Debüt eines Nachwuchsjazzers – vor allem wenn man, wie etwa Columbia Records, wo Miles dreißig Jahre unter Vertrag war, Tonnen der Originaleinspielungen im Back-Katalog führt.

Es geht um die Tantiemen

Der Deal mit den Scharen junger Neobopper in den 80er Jahren hat eben nicht nur mit Nostalgie und Jazz-Recycling zu tun. Es geht um Tantiemen für wiederaufgeführte Kompositonen und die Frage, wie man die dazugehörigen Originale – natürlich CD-kompatibel remastered – gleich mitverkauft oder besser noch einmal.

„Ich kann's verstehen, wenn irgend jemand zu mir kommt und mich fragt, ob ich nicht so was wie ,My Funny Valentine‘ spielen könnte, weil das vielleicht mal lief, als er mit seiner Freundin fickte und die Musik sie beide hochbrachte. Aber heute sage ich den Leuten, sie sollen sich die Platte kaufen. Ich bin inzwischen ganz woanders“, heißt es in Miles' Autobiographie, dem heute wichtigsten Buch über das Leben in der zurückliegenden Jazzjahrhunderthälfte. Als das Buch 1989 erschien, spielte Miles Michael-Jackson- Songs und nannte Prince („beide sind Motherfucker“) einen „der wichtigsten Musiker, die den Weg in die Zukunft andeuten“. Viele der überlebenden Jazzmusiker seiner Generation titulierte Miles hingegen als „faule Arschlöcher, die sich jeder Veränderung widersetzen und an der Tradition festhalten, weil sie zu bequem sind, was anderes zu probieren“. Nicht nur für die Mitmusiker seiner Spätphase, sondern auch für Hancock oder Shorter symbolisiert Miles bis heute den Is-it-Jazz-Leader par excellence, einen Künstler, der zeitlebens die tradierten Kategorien zu sprengen bereit war und Musik immer als etwas Offenes und Entwicklungsfähiges praktizierte.

Als der junge Wynton Marsalis jedoch Anfang der 80er Jahre für seine „akustische“ Jazz-Debüt- Platte von der einflußreichen amerikanischen Fachzeitschrift down beat zum „Jazz Artist of the Year“ gekürt und als Top-Trompeter positioniert wurde (für Miles blieb da nur noch die zweite Reihe), kam nicht nur für das Miles- und Marsalis-Hauslabel, Columbia Records, ein neuer Jazz-Markt in Sicht. Die Jazz-Rock- und Fusion-Dekade, die Ende der 60er durch die zwei experimentellen Miles-Alben „In a Silent Way“ und „Bitches Brew“ eingeleitet worden war, galt nun als beendet.

Comeback mit Coverversionen

Investiert wurde fortan in junge Jazzmusiker, die sich auf den Titelseiten der Magazine nett abbilden ließen und deren wertkonservative Statements das Ende der gitarren- und synthesizersüchtigen Hippie- Jazz-Erben ebenso signalisierten wie das einer auf nonkonforme und antikommerzielle Hipness setzenden selbsternannten Avantgarde, die sich trotz sicht- und hörbarer Überalterung noch rührig zeitlos wähnte.

Miles hatte sich Anfang der Achtziger gerade von der letzten großen Zwangspause, die seine intensive Drogenkarriere von ihm forderte, soweit erholt und inszenierte parallel zu den Veränderungen des Jazz-Marktes sein Comeback mit Coverversionen gängiger Gassenhauer. Das Miles-typische Motherfucker-Popstar-Image jener Tage wirkt aus heutiger Sicht eher peinlich, sein Trompetenspiel gebrochen blaß und der Atem kürzer geworden. Miles wollte Zugang zu den Leuten, „die wirklich Platten kaufen: Und das sind die Jungen“.

Und er fand ihn. In Interviews erzählte er weiterhin, daß Amerika ein rassistisches Land sei, daß James Brown, Bootsy Collins, Sly Stone und Jimi Hendrix hip sind und Elvis Presley „nur die Kopie des Schwarzen“; er erzählte von dem Zwang für schwarze Künstler, ständig etwas Neues erfinden zu müssen, weil schwarze Haltung, Gesang und Musik von den Weißen kopiert und entschärft würden. Etwa zur gleichen Zeit ließ Miles anläßlich einer Grammy- Verleihung seinen gelben Ferrari von New York nach Los Angeles einfliegen, um ihn vor seinem Hotel in Beverly Hills parken zu sehen (da es mechanische Probleme gab, konnte er mit ihm zur Verleihung nicht vorfahren).

Die Miles-Davis-Kontroverse dieser Tage wurde von dem schwarzen neokonservativen Jazzrollbacker Wynton Marsalis und dessen Mentor Stanley Crouch inszeniert. Marsalis hatte Davis schon kurz nach dessen Tod als größten Quatschkopf der Jazzgeschichte tituliert, und Stanley Crouch nannte Davis den Waldheim des Jazz, weil er mit dem Popbusineß kollaboriert und den Jazz dahin verraten habe.

Probably a prayer in the future

In seinem gerade erschienenen Essay, „The All-American Skin Game or The Decay of Race“, provoziert Crouch nun die Erweiterung der jazzfundamentalistischen Reinheits-Kontroverse: „Der Fall von Davis reflektiert möglicherweise das grundlegende Versagen zeitgenössischer Negro culture: jene scheindemokratische Idee nämlich, daß auch die Elite in den Gully gehört.“ Gefangen im schmuddeligen Sog des Pop-Busineß „and all that loud ass rock and roll“ (Baraka), habe Miles die Motherfucker-Pose in bunten Designerklamotten kultiviert – inhaltsleer geworden und zum hippen Marketing-Clou verkommen.

Und dennoch: „So What“, einer der bekanntesten Miles-Klassiker, „is probably a prayer in the future“, schrieb der afroamerikanische Polit-Poet Amiri Baraka am 29.9.91, am Abend nach Miles Tod in seinem Gedicht „When Miles Split“ (zu hören auf der CD „Real Song“, Enja): „Headline the Giants are murdered ... But who am I talkin' to if you split, Miles, man, and who the fuck is there to listen to.“