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Malerei als Geschlechtsempfindung

„Überblicke ich das Ganze, so scheint es mir doch wie aus einem Guß“: Das Münchner Haus der Kunst feiert Lovis Corinths Stilvielfalt auf 150 Bildern, zahlreichen Grafiken und Zeichnungen mit postmoderner Gelassenheit  ■ Von Gabriele Hoffmann

Als Jeff Koons einmal auf einer Pressekonferenz zum besten gab, er habe immer nur die Nummer eins im Kunstbetrieb als Ziel angestrebt, da hatte er große Mühe, sich verständlich zu machen. Das Bekenntnis stand im Widerspruch zu allem, was die Exegeten über seine Kunst herausgefunden hatten. Lovis Corinth hat sich zu seiner Zeit nicht weniger ungeniert und hartnäckig um die Aufnahme unter die Unsterblichen der Malerei bemüht. Der Haß der damaligen Avantgardisten auf die Väter konnte ihn nicht beflügeln. Und auch die verbissenen Machtkämpfe an der Münchner Kunstfront zwischen Neuidealisten, Realisten und Symbolisten stachelten den an der Königsberger Kunstakademie ausgebildeten Ostpreußen nur solange an, als er brauchte, sich ihre verschiedenen Darstellungsmodi anzueignen. Kein Wunder also, daß sich Kunsthistoriker unbehaglich fühlen bei diesem Naturtalent, das in keine Schublade paßt und bei dessen Werk man am liebsten nach dem Aschenputtelprinzip verfahren möchte.

Die Ausstellung im Münchner Haus der Kunst geht nun zum erstenmal mit postmoderner Gelassenheit über solch verkrampftes Bedenkentragen hinweg und zeigt Lovis Corinth mit 150 Bildern und einer treffsicheren Auswahl von Zeichnungen und Graphiken. Die Anregung kam vom Saint Louis Art Museum, das durch die Sammlung Morton D. May ein amerikanisches Zentrum für deutsche Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts geworden ist.

Vom drögen wilhelminischen Salonbild über kulinarische Paraphrasen zum Fin de siècle, zauberhaft gemalte Liebeserklärungen an Charlotte Berend bis zu schonungslosen Selbstanalysen haben Christoph Vitali, Dieter Honisch, James D. Burke und Nicolas Serota alles zugelassen, was ihnen wichtig schien für eine neue, von kolportierten Vorurteilen freie Annäherung an das Phänomen Corinth. Verzichten muß man auf Werke wie „Kain“ oder „Ecce Homo“, denen aus konservatorischen Gründen die Reise nach München verboten wurde.

1880 läßt sich Corinth das erste Mal in der süddeutschen Kunstmetropole nieder. Er findet Gefallen am bajuwarischen Draufgängertum in Defreggers Historienmalerei, profitiert von der an Courbet und der Schule von Barizon orientierten Malerei Leibls und Liebermanns ebenso wie von der realistischen Aktmalerei seines Lehrers Ludwig von Löwtz aus der Piloty- feindlichen Diez-Schule.

Drei Jahre Paris an der Académie Julian hinterlassen weniger Spuren als drei Monate Antwerpen mit dem Erlebnis der Malerei von Rubens, van Hals und Rembrandt. Manet und der Impressionismus waren bei Corinth ganz offensichtlich noch nicht angekommen.

Die Münchner Ausstellung beginnt mit Bildnissen des Vaters, eines Lohgerbers und Landwirts, der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Er war der einzige, bei dem der schüchterne, von seinen fünf Stiefgeschwistern drangsalierte Lovis Liebe und Verständnis für seinen Wunsch, Maler zu werden, fand.

Als sich Corinth 1891 mit 33 Jahren zum zweitenmal in München etabliert, verfügt er über ein maltechnisches Können, das ihm erlaubt, über alle Gattungsgrenzen hinweg mit unbändiger Lust am Wechsel der Malstile in die sorgfältig abgesteckten Terrains der Münchner Künstlercliquen einzubrechen. Jetzt entstehen Bilder, die Kunsthistoriker bis heute nur verschämt zur Kenntnis nehmen. Ein herrlich unantikes Bacchanale auf blühender Wiese mit schmerbäuchigem Bacchus und feixenden Damen, die über eine Blumenwiese stolpern. Und wie bei einem Schuß aus der Kamera gefriert die Burleske zum Puppentheater, das krachledern bei Botticelli und Böcklin wildert. Corinth, der sich nach zehn Jahren in München endgültig langweilt, holt zu immer neuen Tiefschlägen gegen das langsam abdankende 19. Jahrhundert aus. In der „Versuchung des heiligen Antonius“ ist eine Horde VerführerInnen mit mehr Attributen und ikonographischem Ballast ausgestattet, als Bildtradition und -zusammenhang hergeben. Und dann Corinths schlechtestes Bild: „Salome“, die zweite Fassung aus dem Leipziger Museum der bildenden Künste. Frei nach Oscar Wilde bietet die Königstochter ihre entblößten Brüste dem mit spitzen Fingern gewaltsam geöffneten Auge des abgeschlagenen Johanneshauptes dar. Ungerührt assistieren orientalisch kostümierte Figuren – alle mit angeschnittenen Köpfen. Was der Münchner Secession zuviel war, erlebte in Berlin einen Triumph. Über die auf kunstpolitischem Feld zu suchenden Ursachen für die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Kunstmetropolen gibt der Katalog der Ausstellung plausible Auskunft.

In Berlin gründet Corinth eine Malschule und heiratet seine erste Schülerin, die 20jährige Charlotte Berend. Er wird Mitglied der Berliner Secession und ein Freund des Galeristen Paul Cassirer, der ihm die Augen für die französische Malerei des 19. Jahrhunderts, aber auch für van Gogh, Edvard Munch und Kokoschka öffnet. Nach dem Rücktritt Liebermanns 1911 übernimmt er dessen Amt des Präsidenten der Secession.

Julius Meier-Graefe ist vielleicht der einzige unter Corinths Kritikern, der hinter die Fassade tölpelhafter Selbstinszenierungen und gesellschaftlicher Maskeraden schaut und keine Zweifel an der Bedeutung dieser Malerei für den deutschen Aufbruch in die Moderne aufkommen läßt.

Das noch in München gemalte Porträt von Eduard Graf von Keyserling, die Bildnisse von Gerhard Hauptmann, Max Halbe oder Julius Meier-Graefe sind Zeugnisse dafür, wie allein durch die Malerei, mit der Materialität der Farbe und der Bewegung des Pinsels das Porträt nicht nur eines Gegenübers, sondern einer persönlichen Beziehung zwischen Maler und Modell entsteht, vergleichbar mit den Bildnissen Munchs.

Ein durch die Münchner Hängung pointiertes Lehrstück Corinthscher Verschmelzung von psychologischer Einfühlung und absichtsvollem Taktieren sind drei Porträts von Charlotte Berend: 1902 ein perfekt gemaltes Salonbild, 1904 ein vibrierend in Blaugrau gehülltes Ganzfigurenbild der Schwangeren, wenige Tage vor Geburt des Sohnes Thomas, und 1909 eine zärtliche „Donna gravida“ („Die verklärte Charlotte“) mit halbentblößter Brust.

In Berlin beginnt Corinth auch damit, seinem labilen Ego an jedem Geburtstag den Spiegel vorzuhalten und ein Selbstporträt zu malen. Nur wenige Monate vor einem schweren Schlaganfall 1911, tritt er sich in der Pose eines siegreichen Fahnenträgers in blinkender Rüstung gegenüber. Die Ausstellung gibt dieser Einschätzung recht: „Überblicke ich das Ganze, so erscheint es mir doch wie aus einem Guß.“ Immer mehr verdrängt jetzt die Erotik des Malaktes die karrierelüsternen Travestien und Parodien des Frühwerks. Die Erfahrungen physischer Grenzen und der Sturz des Ikarus aus deutschen Allmachtsphantasien setzten Energien frei, die sich im Spätwerk in ekstatischer Malerei entladen. Dazu Corinths Erklärung: „Wie die Musik in dem Menschen und in dem Gesange der Vögel eigentlich nur auf Geschlechtsempfindung beruht, so ist auch die Malerei reiner sinnlicher Ausdruck.“

Daß sich erotische Energien so wenig wie malerische bevorraten lassen, zeigt so manches Gemälde aus den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Fade Komposition, dekorative Schnellmalerei bei „Ariadne auf Naxos“ und einem geharnischten Schwur zur Verteidigung deutschen Wesens „im Schutz der Waffen“. Corinth bekennt sich zu Preußentum und Kaiserreich und ist zutiefst deprimiert über das Ende der Monarchie.

Und doch oder gerade wegen der zerstörten Hoffnungen gewinnt seine Malerei an elektrisierender Kraft bei der Durchdringung und Dramatisierung der unterschiedlichsten Sujets. Heitere und mehr noch bedrohliche Farbstöße bauen Walchenseelandschaften, kreuz und quer gestrichene Pinselbahnen geben dem Porträt von „Wilhelmine mit gelbem Hut“ seine bezaubernde Flüchtigkeit, kurze Pinselhiebe formieren sich zum rätselhaft versponnenen Bild „Das Trojanische Pferd“, das 1937 in die Ausstellung „entartete Kunst“ einziehen mußte. „Der rote Christus“ mit starren weißen Gliedern, ausgestreckt auf einem unsichtbaren Kreuz unter blutroter Sonne, der bohrende Blick aus schwarzen Augenhöhlen auf den Betrachter gerichtet – das ist die irdische Passion, für die es keine Erlösung gibt. Und dann die gleiche Farbmaterie, der gleiche pastose Farbauftrag für ein Konglomerat aus rohem Fleisch in der Küche des Berliner Restaurants Hiller, für das Gedränge der schwarzweißen Tierleiber in einem Kuhstall oder „Chrysanthemen und Kalla“ aus Strömen von vielfarbigem Weiß.

Corinths Malerei hat sich emanzipiert, sie haftet immer weniger an den Gegenständen. „Ein Neues habe ich gefunden: Die wahre Kunst ist Unwirklichkeit üben. Das Höchste! ,Unwirklichkeit‘ finden wir bei Shakespeare im Sommernachtstraum, Hamlet und überall.“ In seinem letzten Selbstbildnis hat der Maler den Pinsel aus der Hand gelegt. Ein Spiegel reflektiert seinen Kopf im Profil. Das Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen hat er dem Betrachter zugewandt. Es ist dabei, sich aufzulösen in Malerei.

Bis 21. 7., Haus der Kunst, München; 2. 8.–20. 10., Nationalgalerie Berlin; 14. 11. 96–26. 1. 97, Saint Louis Art Museum ;

20. 2. 97–4. 5. 97, Tate Gallery London. Katalog: 49 DM

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