Geschichte für eine panzigeunerische Identität

Verfolgt, vertrieben, rechtlos, über die ganze Welt verteilt und dennoch ein Volk geblieben: die „Zigeuner“. Der Roma- Intellektuelle Rajko Djurić plädiert in seinem neuen Buch für eine „nationale Wiedergeburt“ in Europa  ■ Von Rainer Jaroschek

Woher kommen die „Zigeuner“? Wer sind die rund 12 Millionen Roma, Sinti und Cále, die heute in ihrer Mehrheit in Europa, vor allem in den osteuropäischen Ländern, und auf der ganzen Welt, in Amerika, Afrika und Australien, leben? Wohin führt sie ihr Weg? Mit diesen Grundfragen an die Historizität seines Volkes beginnt der Roma-Intellektuelle Rajko Djurić das schwierige und bisher einzigartige Unterfangen, nämlich die Geschichte der Roma und Sinti zu schreiben. Eine Geschichte, die in ihren Quellen hauptsächlich über mündliche Traditionen, die Mythen und Legenden, die Epen und Lieder des Roma-Volkes verfügt und bei Schriftstücken, Dokumenten oder Chroniken auf die Nachlässe der Nichtroma, der gadsche-Gesellschaften, zurückgreifen muß.

Der Autor schildert, wie die Roma und Sinti in ihrer Urheimat, dem Nordwesten Indiens, vor allem in Rajasthan und Sind lebten, bis sie in mehreren Wanderungswellen erstmals ab dem 4. Jahrhundert ihr Siedlungsgebiet verließen. Als Angehörige einer bestimmten Kaste und Unterkaste (Kschatrija) nahmen die Vorfahren der heutigen „Zigeuner“ eine bedeutende Rolle bei der Verteidigung ihres Landes vor arabischen und mongolischen Eroberern ein. Nach Ansicht von Djurić löste dann die Zerstörung Indiens und die ständigen Kriege, die zwischen den verschiedenen Völkern und Staaten geführt wurden, im 11. Jahrhundert eine Diaspora der Roma und Sinti aus, wie sie vorher nur die Juden erlebt hatten. Die Motive des „Exodus aus Indien“ sind also nicht in einem „angeborenen Wandertrieb“, sondern im Krieg, in Eroberungen und Vertreibungen sowie nicht zuletzt in periodisch auftretenden Hungersnöten zu suchen.

Mit Hilfe der Linguistik, die vor etwa 200 Jahren die Entdeckung machte, daß die „Zigeunersprache“, das Romanes, auf die Wurzeln des indischen Sanskrit zurückzuführen ist und sich durch das Studium von „Lehnwörtern“ aus anderen Sprachgebieten die Migrationen der Roma und Sinti seit ihrer Emigration aus Indien rekonstruieren lassen, legt der Autor hauptsächlich zwei Wanderströme seines Volkes frei: Der Zug der Roma-Gruppen habe von Indien nach Persien geführt und sich dann in zwei Richtungen gespalten; zum einen nach Armenien, Syrien und den Irak, und zum anderen in das byzantinische Griechenland, zum Balkan und weiter nach Westeuropa. Hier beginnt im 14. Jahrhundert die „europäische Periode“ der Geschichte der Roma, Sinti und Cále, und ihre Stämme werden, nun außerhalb ihrer Urheimat, wie die Parias in Indien, zu „Unberührbaren“ gemacht.

Selbstbehauptung nur durch Emanzipation

Als eine grundlegende These, die das gesamte Buch durchzieht, stellt Djurić immer wieder heraus, daß die Welten der Romani-Gemeinschaften und die der gadsche-Gesellschaften grundverschieden in ihren Wertorientierungen, Gefühlen und Vorstellungen sind und die Selbsterhaltung der „Zigeuner“ aus einer konsequenten Abgrenzung zu den nationalen Mehrheitskulturen besteht.

Roma, Sinti und Cále, ob aus Nordafrika, Europa oder Amerika – deren Geschichte, Kultur, Traditionen und Bräuche, Religion, Erwerbstätigkeiten und soziale Lage Djurić seinen Lesern mit dem Blick eines Ethnographen beschreibt –, sie alle stammen aus einer Welt, die sich in ihrem geistigen und gesellschaftlichen Leben fundamental von jener des Abendlandes unterscheidet. Wenn auch die einzelnen Roma-Gemeinschaften heutzutage weltweit von der islamischen bis zur europäischen Zivilisation beeinflußt worden sind, bleibt dennoch die indische Kultur mit ihren Gesellschaftsstrukturen, dem Kastenwesen, den Bräuchen, Ritualen, beruflichen und künstlerischen Aktivitäten in der zigeunerischen Lebensweise – im Denken, Handeln und Fühlen der Menschen – existent.

So macht das Romanipe, die Regeln des Zusammenlebens der Romani-Gemeinschaften, das Ausüben bestimmter Handwerksberufe und das Romanes überall auf der Welt das Verbindende zwischen allen „Zigeunern“ aus. Als eine „segmentäre Gesellschaft“ in zahlreiche Stämme, Sippen und Großfamilien – und nicht in „Klassen“ – unterteilt, kommen die Roma und Sinti, wie Djurić uns zeigt, in der Regulierung ihrer Lebensweise auch ohne Staat und Schrifttum aus.

Auch wenn Roma, Sinti und Cále seit dem 11. Jahrhundert nicht mehr zusammen in dem Siedlungsgebiet ihrer indischen Urheimat leben, so sind sie – nach Meinung des Autors – immer noch ein Volk, da die einzelnen Stämme, zwar durch soziale und kulturelle Vielfältigkeiten gekennzeichnet, dennoch eine gemeinsame historische und kulturelle Vergangenheit verbindet. Mag die von Djurić und anderen Roma-Intellektuellen vertretene Theorie einer kulturellen Monogenese aller Roma, Sinti und Cále in der heutigen Diaspora wissenschaftlich auch noch so umstritten sein, politisch jedenfalls legt sie die Grundlagen eines „neu erwachten Nationalbewußtseins“ insbesondere der ost- und südosteuropäischen Roma-Gruppen frei, die seit dem Zusammenbruch des Sozialismus wieder verstärkt der Verfolgung, Diskriminierung und dem Rassismus ausgesetzt sind.

Mit Fachleuten aus Indien, Anthropologen, Linguisten, Ethnologen und Soziologen aus aller Welt, so Djurić, gelte es, die Roma „aus dem Dunkel der Geschichte zu befreien“. Seine politische Geschichtsschreibung zielt darauf ab, das lokale „Wir-Gefühl“ der einzelnen Roma-Gruppen durch nationales Bewußtsein, „das immer noch unter den Belastungen und dem Druck verschiedener Kräfte steht“, zu ersetzen. Sofern jedoch die einzelnen Roma-Gemeinschaften, auf sich selbst fixiert, weiterhin nur ihre Identität zu suchen und aufzubauen beginnen, sich also den Emanzipationsbestrebungen der „nationalen Wiedergeburt“ entziehen, werden sie sich noch weiter voneinander entfernen.

Dies könnte, sofern sich Roma, Sinti und Cále nicht für ein gemeinsames politisches Programm und den Aufbau von Selbstorganisationen entscheiden, dazu führen, daß sie in naher Zukunft als „sozial und politisch isolierte Gruppen dastehen“ und den Assimilierungen der dominanten gadsche-Kulturen endgültig preisgegeben sind. Ohne Lobby, unorganisiert und nicht ausgestattet mit den Instrumentarien für eine politische Macht, werden die Roma, Sinti und Cále, so Djurić, in Europa auch weiterhin um ihre elementaren Menschen- und Bürgerrechte gebracht.

Es liegt nun auch an uns, den gadsche, nach Wegfall des alten Ost-West-Gegensatzes, gemeinsam mit ihren Repräsentanten in internationalen Körperschaften, wie den Vereinten Nationen, der Unesco, dem Europarat und -parlament, für die Bildung der Roma- Kinder, für die Entwicklung des Romanes und für die Wahrung der Romani-Kultur einzutreten, um dadurch den Roma-Gemeinschaften ein würdiges, aufrechtes Dasein in einem multikulturellen Europa der Postmoderne zu schaffen.

Insgesamt ein großartiges Buch – das Selbstzeugnis eines großartigen Roma-Intellektuellen, der nicht nur Sprachwissenschaftler, Philosoph, Dichter, sondern auch Aktivist, Flüchtling aus Belgrad und politischer Kopf der Roma- und Sinti-Bewegung in Europa ist. Rajko Djurić' „Ohne Heim – Ohne Grab“ gehört ganz sicherlich neben Kenricks und Puxons „Sinti und Roma“ sowie Hancocks „The Pariah Syndrome“ zu der wichtigsten Veröffentlichung, die in den letzten Jahrzehnten über die Geschichte der Roma, Sinti und Cále erschienen ist.

Rajko Djurić: „Ohne Heim – Ohne Grab. Die Geschichte der Roma und Sinti“. Mit einem Geleitwort von Václav Havel, Aufbau-Verlag, Berlin 1996, 359 Seiten, geb., 44 DM

Rainer Jaroschek ist Ethnologe und Doktorand im Projekt „Tsiganologie“ an der Universität Gießen.