Ein Zünglein an der Waage

Viele Araber Israels sehen keine Alternative zu Peres  ■ Aus Tamra Karim El-Gawhary

In Tamra tobt der Krieg der Buchstaben. Wenige Tage vor den israelischen Wahlen am Mittwoch dreht sich in dem 22.000 Seelen zählenden arabischen Dorf, eine halbe Autostunde nordöstlich von Haifa, alles um zwei Schriftzeichen – die arabischen Buchstaben „Wau“ und „Ain“. Fast sämtliche Hauswände, Straßenlaternen und Autos tragen eines dieser beiden Zeichen. Auf den Dächern der Häuser hat so mancher mit einer Reihe von nebeneinandergesetzten Glühbirnen den Buchstaben seiner Wahl gleich neben der Fernsehantenne angebracht.

Ein lebendiger Wahlkampf

Das rote „Wau“, steht für eine Koalition der linken Parteien, im Dorf kurz „die Front“ genannt. Das in der grünen Farbe des Propheten gehaltene „Ain“ haben die Islamisten für sich in Anspruch genommen. In den komplizierten offiziellen Wirrnissen arabischer Parteien in Israel müßte es eigentlich anders heißen: „Wau“ steht für die Koalition der Demokratischen Front für Frieden und Gleichheit (Hadasch) mit der Nationaldemokratischen Vereinigung (NDA), beides Gruppen, die der Kommunistischen Partei Israels entsprungen sind. Das grüne „Ain“ dagegen beansprucht die Koalition zwischen der Arabisch-Demokratischen Partei und der Mehrheit der Islamisten für sich.

Im Dorf herrscht fast so etwas wie eine Fußballatmosphäre, die sich angenehm von dem sonst relativ langweiligen israelischen Wahlkampf abhebt. Eine Klebe-Kolonne von Jugendlichen hat ihr Werk gerade vollendet, als die Kinder der Gegenfraktion die Plakate wieder genüßlich abziehen. „Hör nicht auf den, wir haben morgen unsere Veranstaltung, da mußt du unbedingt kommen!“ schreit der Nachbar rüber, der durch sein überdimensionales „Ain“ auf dem Hausdach keinen Hehl aus seiner Unterstützung für die Islamisten macht. Mein Gastgeber lacht und ist fast versucht, den religiösen Nachbarn von seiner Terrasse aus mit einem Glas Alkohol zuzuprosten. Man kennt sich seit Jahrzehnten, und die Wahlen bieten ein gutes Thema, sich zu necken.

Die ausschließlich muslimischen Bewohner Tamras gehören zu jenen 850.000 palästinensischen Einwohnern in Israel in den Grenzen von 1948, also ohne Westjordanland, Gaza-Streifen und Ost- Jerusalem. Mehr als die Hälfte von ihnen, 450.000, sind am Mittwoch als volljährige israelische Bürger wahlberechtigt. Damit machen sie immerhin 12 Prozent der gesamten Wählerschaft aus. Welcher Partei sie ihre Stimme geben, ist dabei allerdings eher von geringer Bedeutung. Die „Waus“ und „Ains“ dürften in der zukünftigen Knesset eine minimale Rolle spielen. Anders bei der Frage, wem sie ihre Erststimme bei der Direktwahl des Ministerpräsidenten geben werden. Wenn es darum geht, ob der jetzige Ministerpräsident Schimon Peres (Arbeitspartei) oder dessen Gegenkandidat Benjamin Netanyahu (Likud-Block) in Zukunft die Geschicke des israelischen Staates leiten, könnten sich die arabischen Israelis, die ein Sechstel der Einwohner Israels ausmachen, als ein Zünglein an der Waage erweisen.

Vor der letzten militärischen Libanonexpedition und der Bombardierung des UN-Stützpunktes in Qana, bei der 102 libanesische Zivilisten umgekommen sind, konnte Peres fast vollständig auf die arabischen Wähler zählen. Sie sahen in ihm denjenigen, der den Friedensprozeß am positivsten beeinflussen kann. Nach Umfragen konnte er mit 90 Prozent der arabischen Stimmen rechnen. Jetzt sind viele zurückhaltender. Hinzu kommt, daß die Palästinenser in Nordisrael oft verwandtschaftlich mit den Einwohnern des Südlibanon verbunden sind.

„Meine Tante ist in Qana umgekommen. Ich werde mein Kreuz nicht neben Peres setzen“, sagt der junge Muhammad Abu Schaheen nur kurz und bestimmt, während er seinen Freunden weitere Anweisungen zuruft, wie sie die Wäscheleine mit den „Wau“-Postern zwischen den Straßenlaternen an der Einfahrt nach Tamra anbringen sollen. Später am Abend entzündet sich auf einer Terrasse in der angenehmen Abendbrise bei mehreren Flaschen Bier eine heftige Debatte um Peres. „Bei meinem Leben und dem meiner kleinen Tochter – mein Gewissen erlaubt es mir nicht, für Peres zu stimmen, nicht seit Qana“, erklärt „Wau“- Partei-Aktivist Abu Bilal. Sein Freund, der Grundschullehrer Muhammad Awad, widerspricht: „Geben wir unsere Stimmen nicht Peres, dann wird womöglich Netanyahu mit Hilfe der israelischen Rechten gewählt. Das wäre eine Katastrophe, denn Netanyahu wird eine Million Qanas schaffen.“

Die Nummer eins auf der „Wau“-Liste, Haschem Mahammeed aus dem arabischen Dorf Umm Fahm, bringt das Gefühl der in Israel lebenden Palästinenser auf den Punkt: „Sie haben uns die Kröte Peres in den Rachen gestopft, und wir können sie weder hinunterschlucken noch herauswürgen.“ Die arabischen Parteien haben Peres eine Liste mit ihren Forderungen überreicht. Neben finanzieller Gleichstellung mit jüdischen Dörfern und besseren Dienstleistungen stehen auch Forderungen auf der Tagesordnung, mit denen der Friedensprozeß und die palästinensischen Landsleute in den seit 1967 besetzten Gebieten unterstützt werden sollen – etwa der sofortige Rückzug der israelischen Armee aus der Stadt Hebron im Westjordanland. Mit dem sicheren Gefühl, daß die Araber ohnehin aus Angst vor Netanyahu für ihn stimmen werden, winkt Peres meist ab. Arafat selbst hatte zugestimmt, daß der Rückzug aus Hebron erst nach den Wahlen auf der Tagesordnung steht, und fragte stichelnd, wer denn nun für die Palästinenser in Hebron verhandele: Arafat oder die arabischen Parteien in Israel. „Wau“-Chef Haschem Mahammeed zuckt nur mit den Achseln: „Wir können nicht päpstlicher sein als der Papst.“

Am Ende werden sich die meisten Palästinenser trotz alledem für Peres entscheiden. Was ist die Alternative? heißt es allerorten wenige Wochen nach Qana. Da hilft es wenig, wenn Ibrahim Sarsur, der Sprecher der Islamisten, davon redet, daß die Psychologie der Arbeitspartei geändert werden muß, die glaube, daß sie die arabischen Wähler in der Tasche habe. Nach letzten Meinungsumfragen, die in der Wochenzeitung der israelischen Araber Kull al-Arab veröffentlicht wurden, werden über 80 Prozent der arabischen Wähler für Peres stimmen.

Prozeß der Integration

Den Bewohnern bleibt die Hoffnung, daß wenigstens die arabischen Parteien in der Knesset gestärkt aus den Wahlen hervorgehen und in Zukunft die arabischen Forderungen durchsetzen. Würden alle Palästinenser für die arabischen Parteien stimmen, könnte der arabische Block bis zu 15 Sitze in der 120 Sitze umfassenden Knesset erlangen. Das ist allerdings bisher blanke Rechenkunst. Als Jitzhak Rabin noch während des palästinensischen Aufstands im Gaza-Streifen und Westjordanland angeordnet hatte, den Palästinensern die Knochen zu brechen, wählten 52 Prozent der Palästinenser Israels dessen Arbeitspartei. Nach der Ermordung Rabins traten 60.000 Palästinenser in die Arbeitspartei ein. Viele waren hin und her gerissen in dem Konflikt, ihre Landsleute im Westjordanland und Gaza-Streifen zu unterstützen oder die eigene Integration in die israelische Gesellschaft einzuklagen. Bei den letzten Wahlen erhielt der arabische Block gerade einmal fünf Sitze im Parlament. Laut Meinungsumfragen wird diesmal immerhin mit sieben Sitzen gerechnet. Zusammen mit den vier arabischen Kandidaten innerhalb der Arbeitspartei, die allesamt fast sicher einen Platz in der Knesset bekommen werden, könnten im zukünftigen Parlament elf arabische Repräsentanten sitzen.

Abdel Hakim Diab gehört zu den reichen Bewohnern Tamras. Sein Haus liegt in einem vornehmeren Teil des Dorfes, in dem nicht mehr die Buchstaben „Wau“ und „Ain“ vorherrschen, sondern die Wahlplakate mit Schimon Peres, die ein „starkes Israel“ versprechen. Diab besitzt Land und das örtliche Schwimmbad, in dem vor allem die Kinder etwas Abkühlung suchen; die Geschäfte laufen gut. In seinem Büro lächeln der eingerahmte Rabin und Peres auf seinen Schreibtisch herab. Auf dem Videogerät liegt zuoberst eine Kassette über das Leben Rabins.

Diab, Mitglied der Arbeitspartei, war einer der arabischen Kandidaten bei den internen Arbeitspartei-Vorwahlen. „Ich habe geweint, als ich die Bilder von Qana im Fernsehen gesehen habe“, entgegnet er auf die Frage, wie man sich als arabisches Mitglied einer Partei fühlt, deren Chef das Massaker im Südlibanon zu verantworten hat. Diabs Argument, warum er dennoch loyal gegenüber der Arbeitspartei bleibt, ist relativ einfach: „Will ich Einfluß nehmen, muß ich mich dorthin begeben, wo Entscheidungen getroffen werden. Ich kann als Araber mitbestimmen, ob die Falken oder die Tauben den Machtkampf in der Arbeitspartei gewinnen“, sagt er. „Wer alles ablehnt, hat keinen Einfluß“, ist sein politisches Motto. Doch auch für Diab könnte die Loyalität zu Peres seine Grenzen erreichen. „Wenn Peres im Friedensprozeß einen Schritt zurück macht, etwa das Siedlungsprogramm erneut beginnt, dann würde ich nicht zögern, zusammen mit den anderen arabischen Stimmen in der Knesset für einen Sturz seiner Regierung zu stimmen.“

So werden die arabischen Bürger Israels auch nach den Wahlen weiter in ihrem Dilemma leben. Seit dem Friedensabkommen von Oslo konzentrieren sie sich mehr und mehr auf ihre internen Angelegenheiten und die Frage der Gleichheit mit den jüdischen Bürgern Israels. Ein Prozeß, den viele als „Israelisierung“ beschreiben. Tatsache aber ist, daß sie in einem Staat, der sich nach zionistischer Tradition als jüdischer Staat sieht, keine völlige Gleichheit erlangen können.