Großkredit für Haiti

Der IWF lobt die haitianische Regierung. Die geforderte Privatisierung von Staatsbetrieben wird zum politischen Zankapfel  ■ Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

„Reiflich überlegt“ sei das Wirtschaftsprogramm von Präsident René Preval, das die Regierung auch ohne Intervention des IWF ausgeführt hätte, lobte Michel Camdessus, der Generaldirektor des Weltwährungsfonds, letzten Freitag seine Gastgeber in Haiti. Neben einer Zahlungsbilanzhilfe von 120 Millionen Dollar sagte er 950 Millionen Dollar über die nächsten drei Jahre für Investitionen im Gesundheitsbereich, Erziehungswesen und Umweltschutz für die kaputteste Ökonomie des Kontinents zu. Das ist der großzügigste Kredit, den die berüchtigte Finanzinstitution einem lateinamerikanischen Land angedeihen läßt.

Voraussetzung für die Unterzeichnung des Abkommens ist die seit Monaten fällige Verabschiedung des Haushaltsplans, die vom Parlament systematisch verzögert wird. Das Programm ist seit Monaten Gegenstand eines innenpolitischen Tauziehens, weil es die Privatisierung der neun Staatsbetriebe enthält. Dieser Schritt scheint vielen allerdings auch ohne die Pressionen des IWF unumgänglich.

Das Zementwerk, die Weizenmühle und die Ölfabrik stehen seit Monaten still. Sie wurden während des Putschregimes von 1991 bis 1994 so heruntergewirtschaftet, daß sie mit Eigenmitteln des Staates nicht mehr flottgemacht werden können. Die noch aktiven Betriebe sind unterfinanziert. Selbst die hochrentabe Telefongesellschaft Teleco und das Elektrizitätswerk EdH bräuchten jährlich Investitionen von 200 Millionen Dollar, um effizient zu funktionieren. Die auf rund zwei Millionen Einwohner angeschwollene Hauptstadt hat seit 1950, als sie nur 119.000 Menschen beherbergte, keinen nennenswerten Ausbau ihrer Infrastruktur erfahren. In der Provinz bleibt der Strom oft ganze Tage weg, und defekte Telefonleitungen werden monatelang nicht repariert. Wer jemals in Port-au- Prince telefonisch Termine vereinbaren und während der täglichen Stromausfälle bei 40 Grad an einem Schreibtisch schmoren mußte, der weiß, wovon die Rede ist.

Nach der Wiederherstellung der Demokratie und der Rückkehr Jean-Bertrand Aristides im Zuge einer multinationalen Intervention Ende 1994 sollte auch die Wirtschaft wieder flottgemacht werden. Die Verhandlungen mit dem IWF, die schon letztes Jahr voll im Gang waren, wurden aber abgebrochen, als Präsident Aristide im November seinen Premierminister Smarck Michel entließ und durch die linkere Claudette Werleigh ersetzte. Der am 17. Dezember vereidigte Präsident René Preval, ein enger Freund Aristides, doch politisch viel pragmatischer als sein charismatischer Vorgänger, hat jedoch die Notwendigkeit einschneidender Wirtschaftsreformen nie bestritten.

Der neue Premierminister, Rony Smarth, ein ehemaliger Mitarbeiter der chilenischen Agrarreform unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und auch heute noch kein Anhänger des Neoliberalismus, hat sich für die bolivianische Variante der Privatisierung entschieden: Die Betriebe werden für private Investionen geöffnet, bleiben aber zu mindestens 51 Prozent in staatlicher Hand. Teleco hat schon vor einiger Zeit zwei Prozent der Aktien in private Hände gegeben und wird de facto bereits von den US-amerikanischen Gesellschaften AT&T und MCI kontrolliert.

Ein Paket von Wirtschaftsreformgesetzen liegt seit Wochen im Parlament. Zwar gehört die große Mehrheit der Parlamentsabgeordneten und Senatoren der Regierungskoalition an. Doch ein wichtiger Teil hört auf Aristide und ist gegen die Privatisierung. In einem Interview bezeichnete Aristide die Privatisierung als „Zigarette, die an beiden Enden brennt“. In keinem Land hätte sie das Schicksal der Bevölkerung verbessert.

Allerdings hat noch keiner der Privatisierungsgegner realistische Vorschläge geliefert, wie die notwendigen Finanzspritzen aufgetrieben werden sollen, um die Betriebe aus dem Morast von Korruption, Ineffizienz und technischer Antiquiertheit zu ziehen. Genausowenig ist klar, wie die Devise „Privatisierung ohne Monopolbildung“ durchgesetzt werden soll. Denn in Haiti hat es einen freien Markt nie gegeben. Produktion und Import fast aller lebensnotwendigen Produkte werden von einer Handvoll Familien kontrolliert. Dieselben Familien, die 1991 den Putsch gegen Aristide finanzierten, sind gleichzeitig die einzigen haitianischen Unternehmer, die genügend Kapital hätten, um beim Schacher um die Staatsbetriebe mitzumischen.

Die Regierung ist immerhin redlich bemüht, durch die Erhöhung ihrer Einnahmen die Abhängigkeit von internationaler Finanzierung zu verringern. Einen Tag nach dem Besuch von Michel Camdessus wurde überfallartig der Benzinpreis um fast 17 Prozent angehoben. Die Elektrizitätsgesellschaft hat vier Rechtsanwaltsbüros mit dem Eintreiben von über 20 Millionen US-Dollar Gebühren der säumigen Stromkonsumenten beauftragt. Die Steuerbehörde, in der Präsident Preval innerhalb von drei Wochen fünfmal persönlich zu Besuch war, rückt Betrieben und Institutionen auf den Pelz. Zum Teil aus gutem Grund, denn ein Großteil der Fiskaleinnahmen versickerte auch noch unter Jean-Bertrand Aristide in Funktionärstaschen.

Kein Wunder, daß der Haushalt zur Hälfte von ausländischer Wirtschaftshilfe abhängt, die Regierung mit einem Defizit von 1,3 Milliarden Gourdes (umgerechnet 132 Millionen Mark) kämpft und den Staatsangestellten noch den Lohn für April schuldig ist. Die Gemeindebeamten, die seit Jahresbeginn mit ungedeckten Schecks bezahlt werden, drohen bereits, landesweit die Kommunalverwaltung lahmzulegen.

Gérard Pierre-Charles, Chef der politischen Organisation Lavalas und einer der klarsichtigsten Analytiker des Landes, bestreitet, daß das Abkommen mit dem IWF eine ähnliche Roßkur bedeutet, wie in anderen Ländern Lateinamerikas. In Haiti hat die Regierung weder den Konsum subventioniert, noch gibt es nennenswerte Ausgaben im Sozialbereich, die gestrichen werden könnten. Vielmehr kann man von der Finanzspritze Arbeitsplätze für einen Teil der offiziell 70 Prozent Erwerbslosen erhoffen.

Laut Rony Smarth soll das vom IWF finanzierte Programm die Währung stabilisieren, die Steigerung der Lebenshaltungskosten eindämmen und die Staatsbetriebe modernisieren helfen. Große Pläne. Mißwirtschaft, Embargo und Kapitalflucht während der dreijährigen Terrorherrschaft haben das Armenhaus der Karibik auf eine Ruine reduziert. Die Weltbank schätzt, daß Haiti günstigstenfalls im Jahre 2003 wieder das wirtschaftliche Niveau von 1991 – vor dem Putsch gegen Aristide – erreichen kann. Michel Camdessus schränkte den Optimismus der Politiker ein: „Man darf keine Wunder erwarten. Der Weg wird lang und schmerzensreich sein.“