Waffenstillstand in Tschetschenien

■ Präsident Jelzin und Tschetschenen-Chef Jandarbijew unterzeichnen Abkommen: Waffenruhe ab dem 1. Juni

Moskau (taz) – Frieden für Tschetschenien in Sicht: Nach nur knapp zwei Stunden Verhandlungen im Moskauer Kreml unterzeichneten Rußlands Präsident Boris Jelzin und der Chef der tschetschenischen Rebellen Selimchan Jandarbijew gestern Abend überraschend ein Waffenstillstandsabkommen, das ab 1. Juni Mitternacht in Kraft treten soll. Präsident Jelzin wandte sich an die wenigen handverlesenen Journalisten mit den Worten: „Sie sind jetzt Zeuge eines historischen Moments, des Friedensschlusses in Tschetschenien“.

Die Bedingungen des Waffenstillstandes seien vorher schon in Moskau ausgearbeitet worden, ließen Regierungskreise verlauten. Desweiteren meinte Jelzin in freundschaftlichem Ton: „Jetzt schauen wir mal, wie alles tatsächlich weitergeht. Im Falle eines Verstosses gegen die Vereinbarung, können wir jeden finden, der das Dokument unterzeichnet hat“. Innen- und Verteidigungsministerium werden jetzt von Jelzin die Instruktionen für den Waffenstillstand erhalten.

Dennoch überrascht die in Windeseile erzielte Übereinkunft. Nicht klar war zunächst, welche weiteren Schritte dem waffenstillstand folgen sollen. Der Verhandlungserfolg konnte nur zustande kommen, da die heikelsten Fragen von vornherein ausgeklammert wurden. Die Tschetschenen beharren weiter auf einem vollständigen Rückzug der russischen Truppen und weichen nicht von ihrer Forderung nach Staatlicher Unabhängigkeit ab.

Nach siebzehn Monaten Blutvergießen im Kaukasus war das gestrige Treffen der erste Kontakt zwischen den kriegführenden Parteien auf höchster Ebene. Selimchan Jandarbijew war erst zwei Stunden zuvor mit seiner Delegation in Moskau eingetroffen. Er verspätete sich, da er das Angebot der russischen Armee, sich von seinem Stützpunkt im südtschetschenischen Schali in die Nachbarrepublik Inguschetien per Hubschrauber fliegenzulassen, ausgeschlagen hatte. Von dort stellte ihm der inguschetische Präsident eine Jak-Maschine für den Weiterflug in die russische Hauptstadt zur Verfügung. Jandarbijew lehnte die freundliche Geste der Armee mit dem Hinweis zurück, schließlich sei sein Vorgänger Präsident Dschochar Dudajew durch einen Anschlag getötet worden.

Rußland hatte jegliche Verhandlungen mit Dudajew abgelehnt, erst dessen Tod eröffnete ironischerweise die Möglichkeit, Gespräche aufzunehmen.

Vor seinem Abflug sagte der Nachfolger Dudajews umgeben von Dutzenden bewaffneter Rebellen: „Wir werden Rußland eine Verhandlungsgrundlage vorschlagen, die es möglich macht, den Krieg zu beenden und der Großmacht ihr Gesicht wahrt“. Jandarbijew zählt trotz seiner Verhandlungsbereitschaft zu den unbeugsamen Parteigängern eines unabhängigen Tschetschenien. Er ginge in den Kreml „nicht als Verlierer, sondern als Gewinner“. Diese Töne hat man in Moskau ersteinmal überhört.

Der russische Wahlkämpfer Präsident Boris Jelzin benötigte ein Ergebnis, das sich vorzeigen läßt. Das Ergebnis liegt vor, doch die Frage bleibt: Wie geht es nach den Präsidentschaftswahlen weiter? In den Kardinalfragen gibt es keine Annäherung. Jandarbijew kann es sich nicht leisten, die staatliche Souveränität abzuschreiben. Jelzin kann es schon gar nicht. Klaus-Helge Donath