Wir hätten es wissen müssen

Nach 17 Monaten Waffenstillstand hatten viele den Friedensprozeß in Nordirland für unumkehrbar gehalten. Die Bombe von Canary Wharf zeigte, daß diese Hoffnung trügerisch war  ■ Von Mary Holland

Warum hat eigentlich das Ende des Waffenstillstands durch die Provisional IRA alle Leute so überrascht? Seit der ersten Bombe, die im Februar in Canary Wharf in London explodierte, wurde uns Journalisten immer wieder die Frage gestellt: Warum fiel in den Medien kein Wort darüber, daß sich die Stimmung derart dramatisch verschlechtert hatte?

Fairerweise muß gesagt werden, daß selbst die führenden Leute von Sinn Féin, wie Gerry Adams und Martin McGuiness, vorher nicht wußten, was passieren würde. Aber wenn man heute zurückblickt, ist ebenso klar, daß sie durchaus erwartet hatten, daß die IRA früher oder später die Geduld mit dem Schneckentempo des Friedensprozesses verlieren würde. Und daß, wenn es soweit sei, eines der großen Prestigegebäude im Londoner Bankenviertel würde dran glauben müssen.

Hier glaubt man ohnehin, daß solche spektakulären Aktionen eine viel größere Wirkung auf die Politiker von Westminster haben als soundso viele Tote in Nordirland. Ein Sinn-Féin-Sympathisant, der den Friedensprozeß zunächst aktiv unterstützt hatte, sagte mir: „Als ich John Major im Unterhaus sah, der den Mitchell-Report (der, unter Leitung des amerikanischen Senators George Mitchell, Vorschläge eines internationalen Beraterteams zur Frage der Entwaffnung der IRA machte) wie ein wertloses Stück Papier behandelte, wußte ich, daß der nächste IRA- Anschlag nur eine Frage der Zeit ist.“

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß der Waffenstillstand der IRA auf allen Kanälen mit großem Trara angekündigt wurde – zu einer Zeit, als Sinn Féins Stimme im britischen Äther noch verboten war. Die Rückkehr zur Gewalt kam zu einem Zeitpunkt, als es keine Zensur mehr gab und Gerry Adams in einem Ausmaß Zugang zu den Medien hatte, um das ihn mancher Politiker zu Recht beneidete. Wie konnte es also passieren, daß wir derart im dunkeln tappten? Wir Journalisten hätten – und das kann man mir wie jedem anderen vorwerfen – begreifen und berichten müssen, daß sich die Situation unaufhaltsam verschlechterte und der Waffenstillstand jeden Moment aufgekündigt werden konnte.

Wer mit Gerry Adams und mit anderen Sinn-Féinlern seines Vertrauens sprach, wußte, daß sie ständig auf die wachsende Ungeduld ihrer Aktivisten hinwiesen, für die Politik als Alternative zum „bewaffneten Kampf“ nicht zu den erwarteten, greifbaren Resultaten führte, die man ihnen, wie sie meinten, in Aussicht gestellt hatte.

In der IRA, deren Mißtrauen gegenüber jeder britischen Strategie in Nordirland tief ist, wuchs der Verdacht, daß man sie „an der Nase herumgeführt“ hatte. Wer von vornherein gegen die „Alternative des nichtbewaffneten Kampfes“ (d. h. Politik) gewesen war, hatte immer schon prophezeit, daß die Briten ein Hindernis nach dem anderen finden würden, um wirklich entscheidende Gespräche hinauszuzögern und in dieser Zeit die IRA demoralisieren und untergraben zu können.

Über solche Spannungen wurde zwar berichtet, die darin liegende Gefahr aber aus vielerlei Gründen nicht wirklich ernstgenommen. Sobald Gerry Adams davor warnte, daß der gesamte Friedensprozeß auf dem Spiel stünde, beschuldigten ihn die Politiker, daß er drohe oder aus einer Maus einen Elefanten mache. Solche Bewertungen durchzogen Fernsehinterviews und die Kommentare fast aller Zeitungen. Kurz vor dem Zusammenbruch des Waffenstillstands schien Adams es immer schwieriger zu finden, solche Kritik abzuwehren. Ich erinnere mich an meine Frage, was genau er damit meine, wenn er sagt, der Prozeß könne „rückwärts gehen“; als Antwort darauf zeigte er mit der Rechten in die Luft und krümmte langsam den Zeigefinger – als drücke er eine Pistole ab.

Es gab andere Warnsignale, über die auch berichtet wurde, die aber vielleicht nicht klar genug analysiert und begriffen wurden. Über die wachsende Zahl von Selbstjustizaktionen – das Zusammenschlagen und sogar Erschießen angeblicher Drogenhändler – wurde lediglich als besonders brutale Akte berichtet. Die britische und die irische Regierung behaupteten, diese Aktionen stellten keinen Bruch des Waffenstillstands dar, da sie nicht gegen Mitglieder der Sicherheitsorgane gerichtet waren – und die Medien schluckten das. Aber die Aktionen hatten eine politische Bedeutung, nämlich, daß die IRA entschlossen war, sich ihre Herrschaft über die Ghettos, aus denen sie traditionell ihre Leute rekrutierte, nicht nehmen zu lassen.

Nach der Erklärung des Waffenstillstands 1994 hatten sich viele dieser Aktivisten zunehmend an politischen Aktionen beteiligt, hatten Demonstrationen organisiert und auf ähnliche Weise begonnen, Politik zu machen. Man wollte diesem neuen Prozeß wenigstens eine Chance geben. Aber lange vor der Explosion in Canary Wharf waren solche Aktionen immer seltener geworden, wie Sinn Féin berichtete. Politik wurde anscheinend nicht mehr länger als eine Alternative angesehen.

Es gibt viele Formen von Zensur, und aus persönlicher Erfahrung weiß ich, daß die Selbstzensur dessen, worüber man als JournalistIn berichtet, die zerstörerischste Form ist – zumindest in einer Demokratie, in der es kaum Restriktionen der Pressefreiheit gibt. Wir haben das in bezug auf Nordirland immer wieder gesehen. Die meisten Journalisten, die über den Konflikt im Norden berichteten, haben schnell verstanden, daß sie innerhalb sehr enger, wenn auch unsichtbarer Grenzen arbeiten mußten, gesetzt durch politische Mißbilligung, Angst vor öffentlicher Meinung und schließlich der Verweigerung des Zugangs zu bestimmten Informationsquellen. Diese Realitäten zu ignorieren und auf provozierenden Fragen zu bestehen, hieß, sich als „unzuverlässig“ oder „IRA-Sympathisant“ zu erweisen. Solche Etikettierungen boten nicht gerade die besten Berufsaussichten.

Zugleich bedeutete es, daß die Öffentlichkeit nicht alle Informationen bekam, die sie zum Verständnis des Konflikts in Nordirland gebraucht hätte. Statt dessen erzählte man, daß die IRA-Leute ein Haufen Psychopathen seien, die keinerlei Unterstützung in der katholischen Minderheit des Landes genössen, und daß man durch Zusammenschluß aller friedlichen Kräfte auf beiden Seiten die Terroristen an den Rand drängen und am Ende besiegen könne. Ein Beispiel: Erst nachdem ein offizieller Report der britischen Armee bekannt wurde, in dem es hieß, daß die IRA militärisch nicht zu schlagen sei, durften auch Journalisten dasselbe ungestraft schreiben.

Im Falle des Waffenstillstands waren weitere politische Strömungen wirksam. Anders – aber vielleicht sogar noch wirksamer. Nach 17 Monaten Frieden hatten wir uns an den Gedanken gewöhnt, daß er nicht mehr rückgängig gemacht werden könne. Wer, wie wir, mehr als zwanzig Jahre die Tragödie Nordirlands begleitet und beschrieben, auf kargen Friedhöfen gestanden und die Gesichter so vieler Witwen und Waisen gesehen hat, wünschte sich mit aller Verzweiflung diesen Frieden als unumkehrbare Realität.

Wir ergriffen jeden Anlaß für Optimismus, zum Beispiel den emotionalen Besuch des amerikanischen Präsidenten Clinton in Nordirland. Wir nannten die Warnsignale nicht, weil wir sie nicht sehen wollten.

Und schlimmer noch war, daß alle Journalisten geschnitten wurden, die sich dieser Stimmung nicht anschlossen, die über die wachsenden Spannungen in der republikanischen Bewegung berichteten oder sogar aussprachen, daß der Frieden noch lange nicht sicher sei. Man machte ihnen klar, daß man sie für diejenigen hielt, die den Frieden selbst nicht wollten – so wie man in der Vergangenheit jeden, der Polizei und Armee kritisierte, als Sympathisanten denunziert hatte.

Mary Holland ist eine der anerkanntesten JournalistInnen Irlands und Kolumnistin der in Dublin erscheinenden Irish Times.