Noch nicht richtig Fuß gefaßt

Finanzieller und politischer Druck lassen den russischen Medien keinen Raum für die Entwicklung einer journalistischen Gemeinschaft mit hohen ethischen Standards. Noch immer dominieren Gängelei und Selbstzensur  ■ Von Alexej Simonow

In meinem Privatarchiv befindet sich die erste Ausgabe von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“; das sind zwei Bände der Zeitschrift Moskva von 1966/67. Sie sind durchaus keine Rarität, viele Literaturliebhaber meiner Generation – und der nächsten – besitzen sie. Und eigentlich müßte man sie nicht aufheben – wäre da nicht die Tatsache, daß der Text in meinen Bänden mit allen Anmerkungen und Streichungen des Zensors versehen ist, mit denen das Werk zunächst nur publiziert werden konnte.

Einige Streichungen betreffen einzelne Wörter, andere bis zu mehrere zig Seiten. Einer der größten Romane des Jahrhunderts wurde so von der Schere eines sowjetischen Beamten verstümmelt. Insofern ist meine Ausgabe ein einzigartiges Dokument sowjetischer Kultur in all ihrer Anmaßung und Idiotie, in ihrer Angst – nicht nur vor der Freiheit der Kunst, sondern vor sich selbst. Zwei Jahre später erschien der Roman in voller Länge. Man könnte die ganze Geschichte nun für einen albernen Fehler halten, wären nicht unsere Archive voll ähnlich beschnittener und zensierter Bücher, Artikel und Filme, erinnerten wir uns nicht an all die Lieder, Theaterstücke, Romane und Fernsehsendungen, die wir jahrelang nicht sehen durften – oder nur deformiert und verstümmelt.

Sowjetische Zensur diente dazu, die große Lüge des Kommunismus zu bewachen. Sie war solange Teil dieser Lüge, daß ihr jedes ungewöhnliche Wort, jeder ungewöhnliche Gedanke immer gleich als ein Hinweis auf die Wahrheit galt, also Angst auslöste und zu Gegenmaßnahmen aufrief.

Gleichzeitig produzierte die permanente Notwendigkeit, sich zwischen Scylla und Charybdis der Zensur durchschlängeln zu müssen, bei den SchriftstellerInnen, HistorikerInnen und FilmerInnen einen besonders subtilen Sinn für Stil, lehrte sie die Kunst der Anspielung und Metapher, der Vieldeutigkeit des Klangs. Manchmal gelang es einem literarischen Text, durch die Maschen zu schlüpfen. Für journalistische Texte war das schon schwieriger, denn selbst eine nüchterne Präsentation der Fakten ohne jede Wertung war so gut wie unmöglich, wenn sie nicht in einer Ode auf das allesumfassende kommunistische Ideal mündete. Angst produzierte Selbstzensur, selbst bei den Besten. Aber sie erinnerte uns auch an den schmalen Grad zwischen Wahrheit und „Wahrheit“.

Wir lebten mit einer doppelten Moral und unterschieden zwei Wahrheiten – der einen, einem engen Freundeskreis vorbehaltenen und der anderen, der offiziellen Wahrheit für Versammlungen, Zeitungsartikel und Fernsehinterviews. Die Angst, daß wir die beiden einmal miteinander vermischen könnten, ließ uns selten los. Aber die Angst war auch eine Art Scheidelinie zwischen Wahrheit und Lüge. Jetzt ist sie verflogen, oder doch fast.

Die einzige Trennlinie zwischen Wahrheit und Lüge liegt in einer eher schwach ausgebildeten Wahrnehmung von Moral, wie sie dem post-sowjetischen Journalismus fremd ist. Die Abschaffung staatlicher Zensur hat den JournalistInnen merkwürdigerweise nicht geholfen, eine ernstzunehmende Abwehr gegen jede Form von Zensur zu entwickeln. Die ist in den letzten Jahren wieder aufgetaucht, häufig in einer schwer durchschaubaren Maske – dafür aber mindestens so wirksam wie früher. Verstärkt wird sie durch politische und wirtschaftliche Faktoren, spiegelt sich im Druck, den kriminelle Organisationen ausüben können und ist in der überdauernden Kultur der Selbstzensur angelegt.

Politische Zensur ist beispielsweise in den ländlichen Gebieten weit verbreitet. Zu welchen Mitteln kann eine Stadt-, Kreis- oder Bezirksverwaltung greifen, wenn ihr nicht gefällt, was die regionale Zeitung über sie berichtet?

Es gibt viele Möglichkeiten. Sie kann beispielsweise alle amtlichen Stellen – von der Polizei bis zum Finanzamt – dazu bewegen, sich für das mißliebige Medium ganz besonders zu interessieren. Wenn das nicht ausreicht, dessen „Haltung“ zu verbessern, wird man die Zeitung oder den Sender durch ständige Besuche von Inspektoren und Kontrollkommissionen ein halbes Jahr lang in Atem halten. Man kann im Zusammenhang mit Bankenprüfungen auch Konten einfrieren, die Zulassung entziehen und unter diesem Vorwand dann das Büro der Chefredaktion versiegeln.

Wenn alles nichts hilft, kann man den Direktor der Zulassungsstelle zu sich bitten – und am nächsten Tag erscheint dann eine andere Zeitung mit demselben Titel und Logo, allerdings einem neuen Chefredakteur und/oder einer völlig ausgewechselten Redaktion. Das sind keine Phantasien. Den Zeitungen Lyuberetskaya und Sovetskaya Kalmykia ist genau das passiert. Seit zwei Jahren versuchen sie vor Gericht, sich wieder in ihre Rechte einsetzen zu lassen – obwohl das Oberste Gericht bereits zweimal zugunsten der Zeitungen entschieden hat.

Dann gibt es noch die Möglichkeit, eine Zeitung wegen eines angeblich beleidigenden oder verleumderischen Artikels vor Gericht zu bringen. Derlei kommt nicht nur fern von Moskau vor. Nach Auskunft des Herausgebers der bekannten Moskauer Zeitung Iswestija hat er ständig bis zu 23 solcher Fälle gleichzeitig. Eine solche Klage ist gerade auch deshalb besonders einfach, weil sie keinerlei moralisches oder finanzielles Risiko birgt.

Wirtschaftlich gesehen existiert noch immer das staatliche Monopol auf den Vertrieb von Zeitungen beziehungsweise die Vergabe von Sendefrequenzen. Mit dem seit 1995 bestehenden Förderungsmodell gab es auch verstärkt die Möglichkeit der Ablehnung von Anträgen. Inzwischen erhalten nur noch staatliche Medien Subventionen, deren Höhe sich ziemlich direkt aus ihren politischen Positionen abzuleiten scheint. Auch ein kürzlich verabschiedetes Werbegesetz hat sich als nützliches Instrument zur Manipulation der Presse erwiesen. Entscheidungen über die (gesetzlich geforderte) „Ehrlichkeit“ der Werbung werden nicht selten durch Bestechung getroffen, und Behörden nutzen die Androhung von Geldstrafen gern als Hinweis auf erwünschtes Verhalten.

Ein Massenmedium, das heute in Rußland überleben will, kann sich bis auf weiteres keine vollständige Transparenz seiner finanziellen Geschäfte leisten. Jeder ist derzeit gezwungen, sich mehr oder weniger „zu verkaufen“, das heißt, nach nichtöffentliche Finanzhilfen zu suchen – was nichts anderes bedeutet, als allen möglichen Erpressungen und zweifelhaften Organisationen ausgeliefert zu sein.

Allein in den letzten zwei Jahren wurden über zehn JournalistInnen ermordet, entweder um das Erscheinen des von ihnen gesammelten Materials zu verhindern oder als Rache dafür, was sie schon veröffentlicht hatten. Dimitrij Khodolow und Wladislaw Listjew sind nur die bekanntesten. Hinzu kommen natürlich noch alle möglichen Formen der Druckausübung, Einschüchterung von JournalistInnen, ihrer Ehepartner und Kinder. Das kommt keineswegs immer nur aus der Ecke der kriminellen Halbwelt, sondern es sind auch korrupte Abteilungen des Innenministeriums involviert.

Ohnehin sind Stadt- und Bezirksverwaltungen oder regionale Polizeieinheiten nicht selten mit zweifelhaften Organisationen liiert. Ihre Behandlung von JournalistInnen (besonders derjenigen, die über Korruption und Fehlverhalten der Miliz berichten) ist im Prinzip nichts anderes als kriminell. Die „Stiftung zur Verteidigung von Glasnost“ (GDF) hat solche Fälle beispielsweise in Wladiwostok, Mordovia, Wolgograd, Wologda und Woronesch dokumentiert.

Ende 1994 veröffentlichte die GDF eine Untersuchung unter dem Titel „Journalisten und Journalismus in den russischen Provinzen“. Auf die Frage „Haben Sie jemals amtliche Einflußnahmeversuche erlebt?“ antworteten 25 Prozent der 1.200 befragten JournalistInnen mit Ja; weitere 27 Prozent gaben an, daß Druck von politischen, wirtschaftlichen oder kriminellen Gruppierungen auf sie ausgeübt worden sei. Es ist kaum anzunehmen, daß unter solchen Bedingungen, in denen die Hälfte aller JournalistInnen Einschüchterungen und Drohungen ausgesetzt ist, Selbstzensur vollkommen verschwunden ist.

Der russische Journalismus steht am Scheideweg. Nachdem er nicht mehr „ausführendes Organ der Partei“ sein muß, hat er schnell die Rolle des „vierten Stands“ angenommen – ohne dabei zu bedenken, daß der vierte Stand nicht die Presse selbst, sondern die öffentliche Meinung ist, in deren Namen die Presse spricht.

Die Überzeugung vieler ausländischer Beobachter, die Wiederkehr des Kommunismus als allesbestimmende Staatsideologie in Rußland sei unmöglich, weil wir

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eine freie Presse haben, die das verhindert, kann ich durchaus nicht teilen. Ebenso wie die Demokratie in allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion – vielleicht mit Ausnahme der baltischen – eher zerbrechlich ist, hat auch die Presse in dieser russischen Demokratie noch nicht wirklich Fuß gefaßt. Nachdem sie zunächst so viel verloren haben, müssen JournalistInnen das Bewußtsein für die Würde ihres Berufs erst noch erlangen.

Die wirtschaftliche Situation der Medien läßt sich am besten als Überlebenskampf bezeichnen. Sie läßt keinen Raum für die Entwicklung einer journalistischen Gemeinschaft, die sich an hohe ethische Standards hält und wenig übrig hat für Leute, die diese Standards verletzen und angesichts des Drucks von außen jede Solidarität vermissen lassen. Eben deshalb jedoch ist meiner Meinung nach die Restauration des Kommunismus im alten Stil möglich.

Presseverlautbarungen der Ideologen einer „neuen, sozialdemokratisch orientierten“ kommunistischen Partei deuten an, daß für einen „schnellen Sieg“ Veränderungen in den Mediengesetzen höchste Priorität haben. Die Geschichte hat zur Genüge gezeigt, daß Kommunisten und eine freie Presse nicht koexistieren können. Aber die Kommunisten sind nicht das einzige Problem. Die in ihrem demokratischen Gewand noch unsichere Presse ist überhaupt nicht in der Position, starkem staatlichen Druck widerstehen zu können.

Ein Exempel dafür statuierten im Januar unsere „demokratischen“ Behörden in Kisliar und Perwomajskowe. Nicht ein einziger Journalist wurde in diesem Gebiet zugelassen. Und die ganze Welt, einschließlich Präsident Jelzin, wurde mit Lügen von den Repräsentanten der lokalen Machthaber und Sicherheitskräfte abgespeist. Auch in dem seit einem Jahr gegen Tschetschenien geführten Krieg hat die „Stiftung zur Verteidigung von Glasnost“ insgesamt 350 Verstöße gegen journalistische Rechte registriert – ebensoviele wie für den Rest der früheren Sowjetunion (ausschließlich der Baltischen Staaten).

Erste Aufgabe einer freien oder auch nur bedingt freien Presse ist und bleibt die Verhinderung des Sieges eines kommunistischen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen im Juni. Mir ist klar, wie merkwürdig dies in europäischen Ohren klingen muß, die an den Ton sich zurückhaltender, objektiv berichtender Massenmedien gewöhnt sind. Aber so sind die Realitäten in Rußland heute. Eine Renaissance des Kommunismus werden wir nicht überleben. Um sie zu verhindern, muß die Presse ausgewogener, zurückhaltender, professioneller und weniger parteilich sein. Falls das nicht gelingt, werden wir jenem Paradox zum Opfer fallen, das Igor Malaschenko, Generaldirektor des besten russischen unabhängigen Fernsehsenders NTV ausdrückte: „Man ist im allgemeinen der Ansicht, daß wer das Fernsehen auf seiner Seite hat, die Wahlen gewinnt. Aber das ist eindeutig Unsinn. Wer Augen und Ohren hat weiß, daß es in Rußland umgekehrt ist.“

Die Erfahrung aus zwei Wahlkampagnen zeigt, daß Malaschenko recht hat. Und sein Diktum gilt nicht nur für das Fernsehen, sondern für die Presse insgesamt. Die Kommunisten können nur durch Intelligenz besiegt werden, nicht durch den Druck der Medien. Wird die Presse in ihrem heutigen Zustand in der Lage sein, dazu beizutragen? Wir werden es im Juni bei den Präsidentenwahlen wohl herausfinden.

Alexej Simonow ist Direktor der „Stifung zur Verteidigung von Glasnost“