„Ein fauler Nachgeschmack bleibt zurück“

■ Mariam Jandijewa ist Beraterin für internationale Fragen an der Moskauer Vertretung des Präsidenten Inguschetiens und Vorsitzende der Menschenrechtsgruppe Memorial

taz: Glauben Sie, daß der am Montag im Kreml vereinbarte Waffenstillstand halten wird, oder dient die Unternehmung rein propagandistischen Zwecken?

Mariam Jandijewa: Selbstverständlich begrüßen wir jede Entscheidung, die zum Frieden führt. Doch wir sind nach wie vor beunruhigt. Dergleichen Vorhaben wurden mehrfach verkündet, Ende März sogar schriftlich fixiert, ohne daß die Kriegshandlungen aufhörten. Wollen wir hoffen, daß am 1. Juni der Waffenstillstand tatsächlich in Kraft tritt. Der Stil der Gespräche, die Atmosphäre und deren Hast nähren aber Zweifel an der Ernsthaftigkeit. Nach alldem was geschehen ist, den zigtausend Toten, bleibt ein fauler Nachgeschmack zurück. Mit welcher Leichtigkeit die ganze Unternehmung in einer halben Stunde durchgezogen wurde. Das hat doch etwas Zynisches. Ein grandioses Spektakel mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen am 16. Juni.

Schließlich haben sich die Rebellen auch auf dieses Schauspiel eingelassen, welches Interesse können sie verfolgen?

In Tschetschenien sind alle erschöpft, kriegsmüde, aber auch enttäuscht von der Erfolglosigkeit der Vereinbarungen. Die Garantien des Präsidenten Rußlands haben nie auch nur das Geringste bewirkt. Nun wird sich zeigen, wozu die höchste Instanz des Landes tatsächlich in der Lage ist. Desgleichen wird sich zeigen, von welcher Substanz die russische Demokratie ist. Selimchan Jandarbijew wird in Tschetschenien geachtet und anerkannt. Er ist ein willensstarker Mensch, die Entscheidung fiel nicht spontan, sondern wurde längere Zeit erwogen. Es ist der letzter Versuch der Tschetschenen, Frieden zu schließen. Die Bevölkerung freut sich über jede Minute, in der sie Atem holen kann. Jede Erleichterung ist willkommen.

Was hat sich seit den ersten Friedensgesprächen im Sommer letzten Jahres verändert? Nutzen die Rebellen die Kampfpause, um ihre Verbände neu zu gruppieren?

Die Situation ähnelt genau der vor einem Jahr. Auch damals haben beide Seiten die Friedensgespräche genutzt, um ihre Truppen aufzufrischen und zu verlegen.

Jelzin kassiert den Triumph für sich, den Verhandlungspartnern bringt er indes kaum das protokollarische Mindestmaß an Achtung entgegen. Gehört das auch zur Strategie?

Der unerwartete Abflug Jelzins in den Kaukasus ist Teil einer wohlüberlegten Strategie. Gestern noch Gespräche im Kreml und heute bereits in Tschetschenien. Wenn auch nur auf dem Flughafen Grosnys, weiter ins eingeäscherte Landesinnere rückt er wohl nicht vor. Ein kalkulierter Schritt, traditionell für Rußland und seinen Imperialismus, zack, zack. So war es schon vor zweihundert und hundert Jahren. Wir haben dafür sogar ein Wort, „amanat“, es ist so was ähnliches wie Geisel. Verhandlungen werden aufgenommen, und gleich darauf setzt sich die russische Führung ab, während die Unterhändler in Moskau festsitzen.

Ist der Traum tschetschenischer Souveränität jetzt ausgeträumt?

Nach der totalen Zerstörung und der demonstrativ verächtlichen und überheblichen Haltung gegenüber dem Volk Tschetscheniens werden die Verhandlungen über den Status sehr langwierig und aufreibend. Die Führungen beider Seiten sind schon Opfer und Geiseln ihrer Ideen und des unendlichen Blutvergießens geworden. Rußland ist gezwungen, seine Position in Tschetschenien und der gesamten Region neu zu bestimmen. Hinter den Wortschleiern eines geeinten und unteilbaren Rußlands verbirgt sich nichts anderes als der Imperialismus des Kreml. Unterstützt vom Populismus Jelzins. Die Politiker sagen nur das, was das Volk hören will.

Was passiert mit dem Regierungschef, der Moskauer Marionette, Doku Sawgajew?

Er machte bei den Verhandlungen einen sehr verlorenen Eindruck, als wäre er Gast auf einem falschen Bankett. Er fühlt sich ziemlich unwohl in seiner Haut. Das ist die Quittung für jemanden, der die russische Last mit Panzern in die Heimat bringt. Er wird ohne Federlesens fallengelassen. Alles hat historische Parallelen. Interview: Klaus-Helge Donath