Der Schlaf von der Spritze

■ 22. Ballett-Tage eröffnen mit Dornröschen, einer Choreografie von Mats Ek

In der Nacht des 6. Juli 1982 wechselte im Königlichen Opernhaus Stockholm die romantischste aller Ballettfiguren, die Giselle, ihren Aufenthaltsort: Aus war es mit der traumhaften Geisterwelt im nächtlichen Wald, die seit 1841 die Tanzfreude betörte. Giselles Wahnsinn endete nicht im Tod und der mythischen Wiedererweckung, vielmehr fand sie sich in der hygienisch weißen Welt einer gewöhnlichen Nervenklinik wieder.

Der Choreograf Mats Ek erlangte mit dieser Neufassung Weltruhm. Der Sohn von Birgit Cullberg, deren Compagnie er später übernahm, hatte sich immer wieder sozialen Themen gewidmet: 1977 den Demonstrationen von Soweto, 1978 der Unterdrückung der Töchter in Bernardas Haus. Die letzten Jahre unternahm er Ausflüge ins abstrakte Ballett, doch nur, weil seine Kritiker das erzählende Ballett „unmodern“ fanden. Seine Abstraktionen Gras und Meinungslose Weiden, aufgeführt mit dem Hamburger Ballett, wurden hoch gelobt. „Ich liebe es aber zu erzählen“, besinnt er sich auf seine Wurzeln. Und so steht jetzt wieder ein Ausflug in die Historie bevor: Mit einer Neufassung des Dornröschens wird Mats Ek die 22. Hamburger Ballett-Tage eröffnen.

Das Märchen spielt in Deutschland, unter ganz gewöhnlichen Menschen. Aus der bösen Fee Karabos wird ein Arzt aus einem „Dritte-Welt“-Land, der Dornröschen eine Spritze unbekannten Inhalts anbietet. Ek verläßt das Gut-Böse-Schema: „Die Fee Karabos ist nicht böse, sie ist verärgert, weil sie nicht eingeladen wurde. Und ich zeige, was dabei herauskommt, wenn man Menschen übergeht.“

Dornröschens Schlaf nach dem Stich ist der Übertritt „in eine Wirklichkeit, die ich nicht kenne“, weicht der Schwede vorsichtig der naheliegenden Assoziation zum Heroin-Milieu aus. Doch warum nimmt er dafür die alte Musik von Tschaikowsky? Ek überlegt: „Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten mit der Musik. Man merkt nämlich, daß sie für den Zar geschrieben wurde. An allen Stellen glitzert es.“ Doch dann versuchte er, „nur mit dem Hören“ zu erkunden, wie diese Musik ursprünglich gemeint war.

Die Ballett-Tage bieten, neben Neumeiers Werkschau, zwei Gastspiele: Die Deutsche Oper Berlin kommt mit dem Ring um den Ring von Maurice Béjart, das Tokyo Ballett gibt M, ein Stück, das Béjart über den japanischen Nachkriegsdichter Mishima chroeografierte. In der traditionellen Nijinsky-Gala am 23. Juli finden sich u. a. ein Solo, das Carolyn Carlson für Marie-Claude Pietragalla kreierte, und ein Pas de deux aus Mats Eks legendärer Giselle.

Gabriele Wittmann

Premiere von Dornröschen: 2. Juni, 19 Uhr; 22. Ballett-Tage: 2. bis 23. Juni, Hamburg Oper