Dokumentation
: Wie Mäuse getötet

■ Zum Bremer Gedenktag: Brief eines Überlebenden der Nazi-Psychiatrie

Ein neuer Gedenktag für die Bremer wird heute ins Leben gerufen. Mit einer Vortragsveranstaltung im „Haus am Park“ will ein Initiativkreis an die Opfer der sog. „Euthanasie“ des Nazi-Regimes erinnern. Denn von Folter und Mord blieben auch die Bremer Psychiatrie-Patienten nicht verschont. Aus der Bremer Nervenklinik wurden 987 Männer und Frauen in andere Anstalten „verlegt“, wie es offiziell hieß – 708 von ihnen überlebten nicht. Am 30. Mai 1940 fand in Bremen eine dieser „Verlegungen“ statt, von der nur die wenigsten zurückkehrten. Einer von ihnen ist der Bremer Martin N. Wir dokumentieren in Auszügen einen Brief, den der Patient nach Kriegsende an den Staatsanwalt schrieb.

„Im Dezember 1943 sind von Ellen aus etwa 350 Menschen – Frauen und Männer – mit einem Transportzuge in die Landesanstalt Obrawalde bei Meseritz gebracht worden. Doch es war diese Anstalt Obrawalde eine böse Enttäuschung. (...) Wer in Obrawalde von den Pflegern oder Ärzten als unbrauchbar zur Arbeit, als nicht mehr besserungsfähig oder besserungswillig, als Siecher, als in der Erbmasse der Volksgemeinschaft unerwünscht bezeichnet oder beschuldigt wurde, wer Fluchtversuche unternahm, der wurde getötet und wer von diesen Patienten noch halbwegs auf den Füßen stehen konnte, wurde, bevor er in die Zelle oder in das Haus 19 (das Todeshaus) kam, erst ins Badezimmer geführt vom Pfleger und mußte sich selbst die Füße waschen, auf den Nagel des rechten grossen Zehes kam beim Begräbnis dann eine Nummer (...).

Bei Überfüllung der Anstalt und bei Ankunft der in jedem Monat auf dem Anschlußgleis anrollenden Transporte nahmen diese Tötungen besonders zu, stets waren die auf Gängen der Häuser untergebrachten Neuangekommenen in wenigen Tagen oder ein bis zwei Wochen wieder verschwunden und der Transportwagen zum Massengrab, ein einfacher platter Handwagen rollte tags alle paar Stunden mit einer Ladung nackter Toter, die nur ungenügend bedeckt waren mit einem Tuch und zu acht bis zehn drauf, zum Friedhof. Durchschnittlich 25 Tote kann man täglich rechnen (...).

Von den 350 Bremern, die im Dezember 1943 nach Obrawalde transportiert wurden, wurden in den ersten Wochen sofort etwa 80 getötet. Selbst das Personal der Anstalt Ellen (bei Bremen) hat sich gewundert über die aus Obrawalde (...) gemeldeten zahlreichen Todesfälle in so kurzer Zeit. Ein Freund schrieb mir nach Obrawalde im Brief: Was ist denn da los eigentlich? Hier stehen jetzt andauernd Todesanzeigen in der Zeitung: In Obrawalde plötzlich verstorben.

Niemand von der Anstalt Ellen aber hat dem Sterben in Obrawalde nachgeforscht, niemand vom Gesundheitsamt ist in Obrawalde zum Nachforschen erschienen.

Wie cholera-verseuchte Mäuse sind die Geisteskranken sterilisiert und getötet worden, weil dem nationalsozialistischen Übermenschen Gefahr drohte angeblich oder weil der Nationalsozialist nicht arbeiten solle für Geisteskranke.“

„Dies tut zu unserem Gedächtnis“, Gedenkveranstaltung heute um 20 Uhr im „Haus am Park“ (Zentralkrankenhaus Ost), Züricher Str. 40