Freiflug für KomponistInnen

■ Endlich, die HdK feiert ihr Studio für Elektronische Musik

Heute abend stellen in der Musikhochschule in der Dechanatstraße StudentInnen erstmalig Kompositionen vor, die sie am Computer und mit elektronischen Mitteln hergestellt haben: ein nicht nur für die Hochschule, sondern auch für die Stadt einschneidendes kulturpolitisches Ereignis. Elektronische Musik – im allgemeinen Bewußtsein als Begriff eher skeptisch gesehen durch ihren Einsatz in der Unterhaltungs- und Werbemusik – ist heute unverzichtbarer Bestandteil jeder Kompositionsausbildung geworden. Das größte deutsche Studio steht in Essen in der traditionsreichen Folkwangschule.

„Daß die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert“, hat nicht etwa ein Komponist kurz vor der Erfindung der elektronischen Musik gesagt, sondern schon 1906 Ferrucchio Busoni in seiner viel beachteten Schrift „Ästhetik der Tonkunst“. Der von ihm als nötig erachtete „freie Flugversuch des Komponisten“ wurde möglich in den frühen fünfziger Jahren, als die ersten bis heute berühmten Studios in Mailand, Utrecht, Tokio und Oslo eingerichtet wurden. Doch blieb die Komposition mit elektronischen Mitteln noch jahrzehntelang eher privates Interesse von KomponistInnen.

In Bremen wurden die Weichen dafür gestellt, als vor fünf Jahren die Hochschule für Musik vom Osterdeich in die Dechanatstraße umzog: da wurde für ein derartiges Studio durch das Betreiben des Bremer Komponisten und Hochschullehrers Erwin Koch-Raphaels eine kleine, aber feine Summe bereitgestellt. Als dann im Sommersemester 1994 Younghi Pagh-Paan die Professur für Komposition antrat, stand selbstverständlich ein elektronisches Studio auf dem Ausbildungsentwurf für ihre SchülerInnen, Erwin Koch-Raphael und einige KollegInnen vom privaten „Zentrum für elektronische Musik“ (ZeM) haben den Aufbau unterstützt.

Für eine Hochschule, in der genau wie in jedem Konzertbetrieb fast zu 90% historische Musik geübt und gespielt wird, bedeutet das eine erste internationale Perspektive. Die angehenden KomponistInnen verbringen zwei Semester mindestens im elektronischen Studio und an den dazugehörigen Computern, erfinden und analysieren Klänge, denken sich computergesteuerte Formaspekte aus. „Vieles ist realisierbar, aber für ein ernstzunehmendes Studio haben wir erst ein Drittel der technischen Möglichkeiten“, so Georg Bönn.

Was man da alles machen kann, kann heute noch als „freier Flugversuch“ bezeichnet werden. So hat der am berühmten Pariser IRCAM ausgebildete Komponist Georg Bönn, der mit einem dreistündigen Lehrauftrag im Studio unterrichtet, für ein Stück den gesprochenen Namen „Hiroshima“ für fünfzehn Minuten in die Länge gezogen: sämtliche Tonhöhenunterschiede und Atemrhythmen der menschlichen Stimme, die normalerweise nicht hörbar sind, werden akustisch erschlossen. Dann wurden Abspaltungen des Klanges erneut verarbeitet: das nennt man sampeln. Oder man kann einen Klang „hybridisieren“: es werden die Spektren zweier Klänge miteinander verschmolzen, etwas nie Gehörtes entsteht, oft zur Verblüffung der Komponisten selbst. Mit Hilfe der Live-Elektronik kann ein direkt gespielter Instrumentalklang durch Filter, Regler und Ringmodulatoren unendlich behandelt werden: zerlegt, zerdehnt, rhythmisiert und vor allem auch im Raum verteilt werden.

„Ungefähr nach einem halben Jahr“, so Georg Bönn, „können die Leute selbständig arbeiten. Sie können programmieren, sie können Klangvorstellungen umsetzen und unbekannte Klänge finden“. Kein Komponist kommt heute mehr ohne dieses Können aus. Damit es aber nicht ein technisches l'Art pour l'Art bleibt, besuchen die StudentInnen in Bremen neuerdings auch obligatorisch Einführungen in die Neue Musik, musizieren zwei Semester lang zeitgenössische Musik im Ensemble. Namhafte Komponisten kommen zu Analyse-Seminaren – so am kommenden Sonnabend Mathias Spahlinger – und weltberühmte Interpreten geben hier Interpretationskurse – so der Flötist Martin Fahlenbrock vom Ensemble Recherche oder der Geiger Peter Rundel vom Ensemble Modern.

Aber Younghi Pagh-Paan hat mit dem elektronischen Studio des „Ateliers für Neue Musik“ noch mehr vor: „Es ist in erster Linie ein pädagogisches Studio im Gegensatz zu einem Produktionsstudio. Und da soll hier vor allem die Zusammenarbeit mit den neuen Medien wie Video gelernt werden“. Dazu braucht es noch einen Techniker, der „ist zugesagt von der senatorischen Behörde!“ (Pagh-Paan). Und es braucht etwas Geld für Wartung und weitere Aufrüstung mit neuer Software: dafür ist bislang kein Pfennig da. Doch das darf für das Hören erst einmal vergessen werden, hat es doch die ambitionierten Kompositionen, die heute abend zu hören sein werden , noch nicht negativ beeinflußt.

Ute Schalz-Laurenze