Lange Nacht der Acousmatik

Geräuschstudien, Bühnenrituale, Maschinenkitzel — das alles ab heute wieder bei den „Inventionen“, dem Festival für elektroakustische Musik. Aber was ist eigentlich Elektroakustik?  ■ Von Frank Hilberg

Alle Jahre Zittern um die „Inventionen“: Werden sie stattfinden? Und wenn, wann? Was den diesjährigen, den zwölften Jahrgang betrifft, heißt die Antwort, die lang verzögerte, auf die erste Frage: Ja!!! Und die auf die zweite: Bald! Nämlich von heute bis zum 3. Juni, dem dann noch Konzerte am 7., 8. und 15. Juni nachklappern.

Um auch Neuzusteigern verständlich zu bleiben: Die „Inventionen“ sind das Festival elektroakustischer Musik. Veranstaltet wird es in bewährter Zusammenarbeit zwischen dem elektronischen Studio der TU Berlin und dem DAAD. Was aber ist elektroakustische Musik? Die Musik, die in den Laboren der elektronischen Studios entsteht. Insofern sie den Algorithmen von Computern oder elektrifizierten Schaltkreisen entstammt, ist sie elektronisch, und insofern sie von Lautsprechern in den Raum projiziert wird und gelegentlich Musiker „live“ dazu spielen, ist sie akustisch. Ganz einfach.

Für den Besucher birgt sie in der Regel dennoch manche Überraschung. Nicht nur, weil er zuweilen an jene Art unerhörter Klänge gerät, die erst zehn Jahre später oder nie Einlaß in die populäreren Musiken finden – denn das gehört noch immer zum Ehrgeiz der ambitionierteren E(lektro)-Musik- Komponisten: aus den vorhandenen Maschinen das Ungewohnte herauszukitzeln –, sondern weil er unter Umständen erst einmal gar nichts sieht.

Das ist ungewöhnlich, da doch sonst Interpreten bei der Arbeit zu beobachten sind und die wunderbar dezenten Bühnenrituale Bestandteil der Musik werden. Aber nichts zu sehen und aufs Hören zurückgeworfen zu sein muß kein Nachteil sein. Wenn die Groupe de Recherches Musicales aus Paris anrauscht, wird es trotzdem was zu sehen geben, denn sie bringt ein kleines Orchester mit, ein Lautsprecherorchester, das „Acousmonium“. Naheliegenderweise begreifen Elektroakustiker diese sonst eher unscheinbaren und möglichst neutralen Geräte als Instrumente. Und in der Tat ist durch die Verschiedenartigkeit der Lautsprecher, ihre Bauart, Funktionsweise etc. pp. eine enorme Vielfalt gegeben, die selbstredend kompositorisch zu klingender Münze gemacht wird.

Musik-Objekte

Insbesondere François Bayle, der das Acousmonium 1972 konzipierte, wird es an speziell auf sein Instrumentarium zugeschnittenen Kompositionen nicht fehlen lassen. Neben den acousmatischen Konzerten, die auch Gelegenheit bieten, Werke von den Meistern Bernard Parmegiani, Jean Schwarz, Michel Chion, Francis Dhomot et. al. in garantiert „authentischer Aufführungspraxis“ zu hören, wird es auch eine „lange Nacht des Acousmoniums“ geben, in denen hiesige Komponisten (u. a. Franz Martin Olbrisch und Olga Neuwirth) das Instrumentarium auf ihre Weise erproben.

Wenn die obengenannten Namen, die längst in das große Buch der Musikgeschichte eingeschrieben sind, selbst Musikinteressierten nicht sofort in den Ohren klingeln, hat das strukturelle Gründe. Einmal wird die Musik logischerweise nicht durch die Persönlichkeit charismatischer Interpreten gloriolisiert, sodann hat sich das kollektive Anhören von Tonbändern nicht etablieren können, und zudem ist das Volk der Deutschen nicht sonderlich frankophon.

So kommt es, daß eines der wichtigsten Bücher über die Welt des Klangs, nämlich Pierre Schaeffers „Traité des Objects Musicaux“, 1966 geschrieben, noch immer nicht in unsere Sprache übersetzt ist – und alle anderen Schriften natürlich auch nicht. Das Resultat aller Gründe ist, daß diese Musikform allgemein nicht weit verbreitet ist, was sich aber schon heute abend ändern läßt. Besagter Schaeffer ist, zusammen mit Pierre Henry, der Gründungsvater der „musique concrète“. Und die hat, seit ihrer Geburtsstunde 1948, mehr bewirkt, als ihre geringe Bekanntheit denken lassen könnte: Sie ist nichts Geringeres als der Vorläufer der Sample-Technik und der neuen Collage- und Montagetechniken.

Da Schaeffers „Études de bruits“ (das meint in etwa „Geräuschstudien“) den Grundstein sowohl zu der Ästhetik als auch zu der Organisation der Groupe de Recherches Musicales gelegt hat, wird auch die legendäre „Étude aux chemins de fer“ zu Gehör gebracht, über die jetzt nichts mehr gesagt werden soll – Klassiker erklärt man nicht, man huldigt ihnen.

Zum Beispiel heute, 19 Uhr: Groupe de Recherches in der Parochialkirche, Klosterstraße. Weitere Infos unter Tel.: 20 22 08 28