Das Volk will einen guten Zaren

Im russischen Wahlkampf ist Boris Jelzin omnipräsent. Mit Glauben, Liebe und Hoffnung möchte er die Wählerherzen gewinnen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Hauptgewinn – ein normales Leben für alle“ verspricht das Spruchband im Zentrum von Moskau. Um in den Genuß der Normalität zu gelangen, muß ein Kreuzworträtsel mit neun Buchstaben gelöst werden. Wer ist der gebildetste, umsichtigste und ehrlichste der russischen Präsidentschaftskandidaten? Von den elf Anwärtern scheiden neun wegen der Kürze oder Überlänge ihrer Namen aus. Bleibt noch der Vorsitzende einer ominösen sozialistischen Partei, der Multimillionär Wladimir Brinzalow. Die Fernsehzuschauer konnten sich mehrfach davon überzeugen, daß die gefragten Qualitäten nicht unbedingt auf ihn zutreffen.

Wer es nicht in die Innenstadt schafft, dem flattert das Rätsel dieser Tage auch in den Briefkasten. Wer verspricht Rußland das schier Unvorstellbare? Grigori Jawlinski, Vorsitzender der liberalen Partei Jabloko, dessen Namen sich auf russisch mit neun Buchstaben schreibt. In der Tat ist Jawlinski seinen Konkurrenten intellektuell überlegen, nur Bescheidenheit ist nicht seine Sache.

Die verkörpert eher General a.D. Alexander Lebed, zumindest auf dem Bildschirm. Der wenig telegene Saubermann überlistete mit einem dialogischen Monolog die ihm sonst eher feindlich gesinnte Kamera: „Guten Abend, verehrte Wähler, die Jagdsaison auf Sie hat begonnen.“ Lebed verspricht nichts, sein Credo lautet „Käse umsonst gibt es nur in der Mausefalle“. Von vornherein macht er klar: Wer gut leben möchte, muß auch richtig arbeiten. Nomenklaturisten und Bürokraten prophezeit er harte Zeiten, er selbst werde nüchtern zur Arbeit kommen, sollte die Wahl auf ihn fallen. Die Anspielung hat nun wirklich jeder verstanden. Ob Lebed dadurch in der Wählergunst steigt? Zum morgendlichen Gesprächsthema in der Metro brachte er es allemal.

Die zentrale Wahlkommission hat den Bewerbern jeweils 150 Millionen Rubel (48.000 DM) einmalige Wahlkampfhilfe vorauserstattet. Das reicht gerade mal für drei Minuten Fernsehwerbung. In der offiziellen Rechnungslegung der Kommission gab Präsident Boris Jelzin Einnahmen von 6 Milliarden Rubel an, die juristische Personen gespendet hatten. 566 Millionen brachten Einzelpersonen auf, Wählervereinigungen trugen noch einmal 280 Millionen Rubel zusammen. Jelzin ist Krösus, gefolgt von Jawlinski (3,6 Mrd.), dem Chauvinisten Wladimir Schirinowski (3,2 Mrd.) und Kommunist Gennadi Sjuganow (3 Mrd.), der Anfang Mai schon die Hälfte ausgegeben haben will. Haushalten war noch nie die starke Seite der Kommunisten. Allerdings sind alle Angaben ohne Gewähr und mit allergrößter Vorsicht zu genießen.

Nur eins steht fest: Präsident Jelzin nutzt den Amtsvorteil – und das schamlos. Der Kremlchef ist omnipräsent – auf allen Fernsehkanälen, ob staatlich oder privat, grüßt er freudig erregte Massen, verspricht Zuwendungen oder wenigstens ein energisches Durchgreifen. Bei einigen Auftritten und Huldigungen half die wohlwollende Kamera nach, doch scheint es Zar Boris wieder zu gelingen, die Massen für sich einzunehmen. Ein Herrscher, der es gut meint mit dem Volk, das seinerseits nicht so darauf schaut, ob er demokratische und rechtsstaatliche Normen einhält. Nein, dem Volk in der Provinz ist das ziemlich gleichgültig, es will einfach einen „guten Zaren“. Wieder mal ist Boris Jelzin einer der Ihren. Selbst die Presse, die mit Beginn des Tschetschenienkrieges dem Präsidenten die Gefolgschaft aufgekündigt hatte und hart mit ihm ins Gericht ging, kennt nur noch Zärtlichkeiten. Der polyphone Chor entschloß sich freiwillig zur Einstimmigkeit, bevor die Kommunisten sie mit Gewalt erzwingen.

Jelzins Wahlkampfstrategen haben sich einiges einfallen lassen. Selbst wenn die Hauptperson auf dem Bildschirm nicht erscheint, ist sie dennoch gegenwärtig. Den Part des Präsidenten übernehmen einfache Leute, die Bäuerin, der Arbeiter, der kleine Selbständige, die aus ihrem Leben erzählen und ihre Familienalben zeigen. Alles in Schwarz und Weiß. Im Gegensatz zur anfänglichen antikommunistischen Großoffensive der Medien, die die dunklen Seiten beleuchtete und Schlangen vor den Geschäften wieder Realität werden ließ, läuft es jetzt versöhnlicher. Die Offensive hatte Erfolg, nun beginnt die filigrane Arbeit. Die Protagonisten der kleinen Erzählungen retten ihre Vergangenheit, in der sie einiges Erinnernswertes erlebt haben, doch in den letzten Jahren konnten sie einfach aufatmen. Bald wird es noch besser, man muß nur Vertrauen haben. Und sie haben es. „Ich glaube, liebe und hoffe – Boris Jelzin“ endet jede Kurzgeschichte. Der Erzähler spricht aus einem Bilderrahmen mit Motto und Unterschrift des Präsidenten. Das wiederholt sich zigmal am Tag. Inoffiziell nennt die „Branche“ es seelische Erbauung. Kommerzielle und kulturelle Einflüsse des Westens, die das Leben in den großen Städten verändert haben, wurden anscheinend bewußt getilgt. Hier geht es wieder herzlich und schlicht zu, Vertrauen wird mit Vertrauen beantwortet. Mythos Rußland feiert fröhliche Urständ.

Die Moskauer haben ohnehin ihre Wahl getroffen, suggeriert die Plakatierung in der Innenstadt. Bürgermeister Juri Luschkow, dessen Wiederwahl am 16. Juni kaum gefährdet ist, und Präsident Jelzin lächeln sympathisch und bescheiden von riesigen Schauflächen. Mit ihnen bewerben sich nur noch Mars und Snickers. Allen anderen Kandidaten fehlt das Geld, oder sie sind in die Nebenstraßen abgedrängt worden. Wenn Bürgermeister und Präsident auf einem Ticket fahren...

Auch die Stars der Bühne kommen ihrer Bürgerpflicht nach. Sie können sich die Zukunft nur mit Boris Nikolaiewitsch vorstellen. Jekaterina Schawrina – in Schwanenweiß getüllt – schmettert allabendlich eine Hymne auf „Rossija“ hinaus ins Land. Am Ende dann unscharf die russische Trikolore und ein Schriftzug „unser Präsident“. Schon die sowjetische Nomenklatura ließ sich gerne von Schawrina betören.

Den Clou landeten die Imagemaker mit der Broschüre „57 Fragen an den Präsidenten Rußlands“. Warum ausgerechnet 57? Die ungerade Zahl gaukelt Authentizität vor. Der Präsident antwortet nicht nur auf alles und jedes, er zeigt sich auch von einer „ganz menschlichen“ Seite.

Frage: „Stimmt es, daß ich alkoholabhängig bin?“ – „Sag' ich ja, ist es nicht die Wahrheit. Sag' ich einfach nein, klingt es auch nicht überzeugend. Solange man sich bei uns nicht selbst davon überzeugt, zweifeln alle und sagen sogar noch: Was für ein Russe bist du, wenn du nicht trinken kannst. Also sag' ich eins: Trinken kann ich, aber Mißbrauch treibe ich nicht.“

Boris Jelzin – der Durchschnittsrusse von nebenan mit all seinen kleinen Schwächen. Aber gerade deswegen ehrlich, entschlossen und ein Patriot, der für und mit der Heimat leidet...