Es menschelt wieder am Broadway

Superhit aus dem Off: Die Rockoper „Rent“ rührt mit Aids-Thematik und Boheme-Charakteren. „Menschen, die deine Freunde sein könnten“ ziehen das junge Publikum. Hollywood streitet schon, wer verfilmen darf!  ■ Von Jürgen Büsselberg

„One song glory“ – wenigstens einen großartigen Song will Roger schreiben, bevor das Virus ihm das Leben nimmt: „One song before I go, one song to leave behind.“

Und wieder ist ein amerikanischer Traum in Erfüllung gegangen. Und wieder hätte es keiner gedacht! „Rent“, ein Riesenhit am Broadway, handelt von Aids – wie zuvor schon Tony Kushners „Angels in America“. Aber „Rent“ ist kein Sprechstück, sondern eine Rockoper, zudem fast ein Remake. Jonathan Larson, der Komponist, hat sich inspirieren lassen von Puccinis Oper „La Bohème“.

Allerdings litt Puccinis Mimi noch an Tuberkulose. Und die Bohemiens bei Larson leben nicht mehr in Paris, sondern im East Village von Manhattan – Sie wissen schon: Off-Milieu, junge Musiker, Maler, Filmemacher, Transvestiten und andere Künstler. Leute, die manchmal nicht wissen, wie sie ihre nächste Miete zahlen sollen.

Aber – selbst zur großen Überraschung der Akteure: Milieu zieht wieder. Nur wenige Tage nach der Premiere im New Yorker Workshop Theatre waren alle geplanten Vorstellungen ausverkauft. Steven Spielberg, Whitney Houston und David Bowie gehörten zu den ersten Zuschauern. Alle wollten das Meisterwerk des begabten Komponisten sehen. Daphne Rubin- Vega, Darstellerin der Mimi: „Da begriffen wir alle: Oh, shit, wir stecken da in etwas drin, das ist größer als wir.“ Ende April wechselte „Rent“ zum Broadway ins Nederlander Theatre in der 41. Straße – ein Haus mit über 1.000 Plätzen. Der Vorverkauf hat die drei Millionen Dollar, die die Produktion gekostet hat, längst wieder eingebracht.

Es gibt viele sentimentale Momente in dem Stück – einfühlsame Balladen, einen mitreißenden Gospelsong, aber auch einen amüsanten Tango und Lieder mit Witz und Ironie. Larson setzt auf das Prinzip Hoffnung, und sein zugegeben typisch amerikanischer Optimismus reißt mit. „Rent“ verbreitet eine romantische Idee davon, wie man schwere Zeiten überstehen kann. Das Leben ist hart in Amerika am Ende dieses Jahrtausends, singt Roger, aber ich bin nicht allein. Die Boheme als Solidargemeinschaft und Pflegeversicherung jenseits des Staates: Puccini ließ seine Mimi noch sterben, Larsons Mimi darf, umgeben von Freunden, ihre Wiedergeburt erleben.

Wer Puccinis Oper kennt, wird neben Mimi und Rudolfo/Roger auch andere Charaktere wiedererkennen. Zum Beispiel den erfolglosen Filmemacher Mark, der in der klassischen Vorlage der Maler Marcello war. Mark wird von seiner Freundin Maureen verlassen, weil sie sich in Joanne, also in eine Frau, verliebt hat. Aus Puccinis Gelehrtem Colline wird der schwule Professor Tom Collins, der sich mit dem Transvestiten Angel zusammentut. „Ich lebe im East Village, wie viele meiner Freunde auch“, erzählt Anthony Rapp, Darsteller des Mark, „und erstmals haben wir das Gefühl, wir können ins Theater gehen, um uns selbst auf der Bühne zu sehen.“

Ein Grund für den Erfolg von „Rent“ sind seine authentischen Charaktere. Es ist, als würde dir jemand von seinem und deinem Leben erzählen. Und tatsächlich haben die Darsteller vieles von dem, was sie allabendlich spielen, selbst erlebt. Fredi Walker (Joanne): „Zeitweise habe ich von 50 Cent am Tag leben müssen. Wenn mich jemand fragt, ob ,Rent‘ mein Leben verändert habe: Ja, denn endlich kann ich meine Mietschulden begleichen.“

Dem Erfolg kam aber auch ein Zufall zu Hilfe: Komponist Larson starb am 25. Januar 1996 im Alter von 35 Jahren – am Abend nach der letzten Kostümprobe. Nicht Aids war verantwortlich, sondern eine geplatzte Ader. Trotzdem beglaubigt der Tod die Echtheit des Anliegens. Niemand aus der „Rent“-Crew zweifelt daran, daß er die Aufmerksamkeit der Medien auf die Low-Budget-Produktion, die „Rent“ damals noch war, lenkte.

Mit seinem rasanten Aufstieg stellt sich das Spektakel in die Tradition von „Hair“ und „A Chorus Line“, die beide ebenfalls an Off- Broadway-Theatern ihren Erfolgsweg starteten. Noch einmal hat der alte Mechanismus funktioniert: das Off-Theater als Talentschmiede, deren Kreativpotential der Broadway abschöpft. „Rent“ stößt dabei in eine gerade erst ausgemachte Marktlücke. Immer mehr Jugendliche aus der US-Provinz besuchen New York nicht nur, um zu shoppen, sondern auch, um Kultur zu erleben. Manhattans Theatermeile bot ihnen da bisher eher Altbackenes, die Dauerbrenner von Andrew Lloyd Webber zum Beispiel oder seit Jahren schon „Grease“, nichts aber mit aktueller Sozialthematik. „Mit Rockmusik hatte der Broadway bisher wenig im Sinn“, weiß Pascal, „da war allenfalls ,Tommy‘ eine Ausnahme. Aber da ging es ja eher um Comic-Figuren, nicht um Menschen, die deine Freunde sein könnten.“

Die Moral von der Oper: Es menschelt wieder am Broadway, Helden „von unten“ ziehen das Publikum „von unten“ heran. Pascal, für die New York Times der „Mann mit der goldenen Stimme“, hat zwar eine erstaunliche Bühnenpräsenz, besaß aber vor „Rent“ keinerlei Schauspielerfahrung. Vor seinem Engagement sang er bei einer Hardrock-Band namens Mute, die in den Bars im East Village auftrat. Wilson Jermaine Heredia (Angel) arbeitete als Tänzer, Daphne Rubin-Vega hatte immerhin schon mal einen Nr.-1-Hit in den US-Dance-Charts und spielte in Kalifornien in Randy Newmans neuem „Faust“-Musical.

Das alles hat natürlich seinen Preis: Längst steckt „Rent“ in einer heftig rotierenden Vermarktungsmaschinerie. Noch bevor das Musical an den Broadway wechselte, buhlten Hollywoods Bosse darum, wer verfilmen darf, sicherte sich David Geffen für eine Million Dollar die Plattenrechte. Die CD mit der Originalbesetzung wird gerade eingespielt und soll spätestens im August erscheinen. Derweil bemühen sich Whitney Houston und Jody Watley um die Genehmigung, Songs aus „Rent“ als Popversionen zu covern. Bei Bloomingdale's wurde eine „Rent“- Boutique eingerichtet, in der die Fans „Rent“-Klamotten kaufen können. Daphne Rubin-Vega und Adam Pascal zierten jüngst sogar das Titelblatt vom Newsweek-Magazin – eine Ehre, die noch keinem Broadway-Musical gewährt wurde.

Der Erfolg hat aber auch seine Preise: Das Musical ist nominiert für zehn Tony-Awards, den Oscar des Broadway – am Sonntag fällt die Entscheidung. Allein vier Darsteller, Rubin-Vega, Pascal, Heredia und Idina Menzel (Maureen), stehen auf der Tony-Liste. Zwei Preise für bestes Buch und beste Musik gehen eventuell an Jonathan Larson. Schon im April erhielt Larson posthum den Pulitzerpreis – für „bestes Drama“. Eben nicht nur ein genialer Song, sondern Musical Glory.