Das Rennen ist wieder offen

Heute wird in Tschechien gewählt. Letzten Umfragen zufolge liegen Regierungspartei und Sozialdemokraten fast gleichauf  ■ Aus Prag Sabine Herre

Die Langeweile endete elf Tage vor der Wahl. Als die beiden wichtigsten Prognose-Institute ihre Umfragen veröffentlichten, wurde klar: Der Abstand zwischen der regierenden „Demokratischen Bürgerpartei“ (ODS) und den Sozialdemokraten war auf ganze vier Prozentpunkte zusammengeschmolzen. Monatelang hatte selbst Oppositionsführer Miloš Žeman nicht am Sieg seines Gegenspielers Václav Klaus gezweifelt. Jetzt aber war das Rennen wieder offen.

Die konservativen Mitstreiter des Premierministers konnte der Popularitätsverlust jedoch kaum überraschen. Sind es doch gerade sie, die Klaus seit Monaten vorhalten, diesen Wahlkampf „ohne eine Vision für die Zukunft“ zu führen. Womit sie nicht unrecht haben. „Wir haben gezeigt, daß wir es können“, lautet der allgegenwärtige ODS-Wahlkampfslogan. Im Wahlprogramm der Partei wird den Erfolgen der vergangenen vier Jahre mehr Platz als den zukünftigen Projekten eingeräumt. Andererseits reflektiert die utopiefreie ODS jedoch nur die Stimmung, die im Jahre sieben nach der samtenen Revolution die gesamte tschechische Gesellschaft beherrscht.

Die ersten freien Wahlen 1990 waren ein Referendum gegen die Kommunisten und für Marktwirtschaft und Demokratie. Zwei Jahre später war die Teilung der Tschechoslowakei dann das alles bestimmende Thema. Ein solches fehlt nun. Die Transformation der Wirtschaft ist nahezu abgeschlossen, die Arbeitslosigkeit liegt unter drei Prozent, die Tschechische Republik wurde als erstes Land des ehemaligen Ostblocks Mitglied in der OECD. Und so streitet man sich heute über die Zukunft der Krankenkassen, den sozialen Wohnungsbau und den öffentlichen Nahverkehr. An der Moldau ist westeuropäische Normalität eingekehrt. Bis zu den jüngsten Äußerungen von Bundesfinanzminister Theo Waigel zu den Sudetendeutschen spielte auch die deutsch-tschechische Frage im Wahlkampf keine Rolle.

Das prognostizierte Patt zwischen den beiden großen Parteien des Landes ergibt sich jedoch nicht nur aus den deutlichen Verlusten der ODS – von 30 Prozent bei den Wahlen 1992 auf jetzt 22 Prozentpunkte –, sondern auch durch den Zugewinn der Sozialdemokraten. Während sie bei den letzen Parlamentswahlen nur 6,5 Prozent erreichten, stieg ihr Anteil seit der Wahl des neuen Parteivorsitzenden Miloš Žeman nahezu kontinuierlich auf 18 Prozent. Bei Wahlkampfveranstaltungen verspricht er, die von Klaus streng bewachte Staatskasse zu öffnen: Junge Ehepaare, Mieter, Landwirte, Rentner, ja überhaupt alle, die nicht durch „Korruption“ oder „Diebstahl staatlichen Eigentums“ reich geworden sind, sollen in ihren Genuß kommen.

Auf den Marktplätzen teilt er das Land in Gut und Böse, „fleißige Leute“ und „kapitalistische Gangster“. Ansonsten präsentiert er sich als staatstragender Politiker, der ganz in der Tradition der westeuropäischen Sozialdemokratie steht. Tony Blair und Franz Vranitzky sind seine Vorbilder. Den Umbau der Wirtschaft unter Václav Klaus weiß er durchaus zu würdigen. Und wenn er über sein Modell des „mittelfristig nicht ausgeglichen Haushalts“ spricht, erinnert er daran, daß man natürlich trotzdem die Maastrichter Kriterien einhalten müsse.

Nicht zuletzt beruht Žemans Aufstieg jedoch auf den Erfolgen seines konservativen Gegenspielers. Gerade weil die Privatisierung der Wirtschaft abgeschlossen ist, wünschen sich die BürgerInnen nach Jahren des akzepztierten Konsumverzichts nun umfassende staatliche Sozialleistungen sowie die Förderung des Kultur- und Bildungsbereichs. Die egalitären Traditionen der Ersten Tschechoslowakischen Republik werden lebendig.

Der Forderung nach größerer sozialer Gerechtigkeit können sich selbst diejenigen nicht verschließen, die stets gegen das Modell der sozialen Marktwirtschaft polemisierten. So ließ sich Václav Klaus dazu hinreißen, eine Verdoppelung von Lohn und Gehalt bis ins Jahr 2000 sowie die Einführung von Importbeschränkungen für landwirtschaftliche Produkte zu versprechen. Und zum Entsetzen der Vertreter der uneingeschränkten Liberalisierung lehnen sowohl die ODS wie ihr christdemokratischer Koalitionspartner, die KDU-CSL, weiter die Freigabe der regulierten Mieten ab.

Überhaupt ist es gerade diese ehemalige Blockpartei, die immer wieder vom Klausschen Pfad abweicht. Sie ist die einzige Partei, von den chancenlosen Freien Demokraten Jíři Dienstbiers abgesehen, die das Modell einer dezentralisierten Demokratie entwickelt. So treten die Christdemokraten für die Ernennung eines Ombudsmannes ein, der die BürgerInnen in Auseinandersetzungen mit der immer noch allmächtigen staatlichen Bürokratie unterstützen soll. Sie fordern die von Klaus verzögerte Einführung der regionalen Selbstverwaltung, wollen den Einfluß der Berufs- und gemeinnützigen Organisationen vergrößern. Für all dies hat sich in den vergangenen Jahren auch Präsident Václav Havel stark gemacht. Klaus jedoch lehnt den „korporativistischen Staat“ entschieden ab.

Genau dies könnte für Klaus nach den Wahlen zum Problem werden. „Klaus will allein mit seiner ökonomischen Theorie gesellschaftliche Probleme lösen. Diese Reduktion ist für einen Politiker gefährlich“, sagt etwa Miloš Žeman. Und der Wirtschaftsexperte der Wochenzeitung Respekt kritisiert mangelnden Mut: „Für den Umbau des Rentensystems oder die Transformation des Energiesektors fehlen die Ideen.“ Aus dem liberalen Finanzminister ist in den vergangenen vier Jahren demnach ein konservativer Premierminister geworden. Dies könnte schon bei den Wahlen heute und morgen oder aber noch vor dem Jahr 2000 zum Ende der Ära Klaus führen.