Eine Zitterpartie bis zum Schluß: Oppositionsführer Netanjahu liegt knapp vor Ministerpräsident Peres. Sowohl der Likud-Block als auch die Arbeitspartei können trotz Verlusten bei den Parlamentswahlen eine mehrheitsfähige Regierung bilden

Eine Zitterpartie bis zum Schluß: Oppositionsführer Netanjahu liegt knapp vor Ministerpräsident Peres. Sowohl der Likud-Block als auch die Arbeitspartei können trotz Verlusten bei den Parlamentswahlen eine mehrheitsfähige Regierung bilden

Israel ist nach den Wahlen tief gespalten

Noch ist nichts endgültig entschieden. Bei den Wahlen in Israel lag zwar gestern nachmittag Benjamin Netanjahu, Oppositionsführer und Kandidat des Likud-Blocks für den Posten des nächsten Ministerpräsidenten, mit 16.000 Stimmen oder 0,7 Prozent vor Schimon Peres von der Arbeitspartei, der sich zunächst mit einer 49,6prozentigen Unterstützung der Zivilbevölkerung abfinden muß. Eine definitive Entscheidung im Rennen der beiden Spitzenkandidaten, die nach dem neuen Wahlsystem zum ersten Mal direkt gewählt werden, wird aber erst am Wochenende fallen. Bis dahin werden auch die Stimmen der Briefwähler ausgewertet sein – der 140.000 Soldaten, der Diplomaten im Ausland und hospitalisierten Kranken.

Angesichts der geringen Differenz zwichen Netanjahu und dem bisherigen Ministerpräsidenten kann es bei der Zählung der Stimmen der Soldaten noch Überraschungen geben. Deshalb waren gestern weder die Führer der Arbeitspartei noch die Spitzen des Likud bereit, ein definitives Urteil über die Wahlergebnisse abzugeben. Beide großen Parteien – Arbeitspartei und Likud – haben 19 Sitze bei den gleichzeitigen Wahlen zum israelischen Parlament, der Knesset, verloren. Verantwortlich für die damit verbundene Stärkung kleinerer Fraktionen im Parlament ist unter anderem das neue Wahlsystem, das eigentlich eingeführt wurde, um die Machtbefugnisse des Ministerpräsidenten und die Stabilität seiner Regierung zu erhöhen. Die Wahlen vom Mittwoch haben demgegenüber zu einem destabilisierenden Patt zwischen den Hauptkandidaten geführt, das Parlament zersplittert und die außenpolitisch rechtsorientierten Tendenzen in der Knesset durch eine Festigung des religiösen Lagers (bei einem Zuwachs von 18 auf 24 Sitze) gestärkt.

Nach dem Stand von gestern nachmittag sind sowohl Netanjahu als auch Peres in der Lage, Koalitionsregierungen zu bilden, die in der Knesset über eine Mehrheit verfügen. Das wesentlich gestärkte religiöse Lager, Nathan Sharanskys eher rechtsorientierte neue Partei der russischen Einwanderer (sechs bis sieben Mandate) und die von der Arbeitspartei nach rechts abgespaltete Partei des Dritten Weges (vier Mandate), haben sich vor den Wahlen sowohl Netanjahu als auch Peres als interessierte Koalitionspartner angeboten. Ungeachtet dessen, ob der neue Regierungschef vom Likud oder der Arbeitspartei gestellt wird, muß der Tatsache Rechnung tragen werden, daß die Hälfte des gespaltenen Volks den jeweiligen Rivalen vorgezogen hat. Dies wird die Zusammensetzung jeder neuen Koalitionsregierung und ihrer Politik beeinflussen. Somit kann auch die Bildung einer breiten Koalition der „nationalen Einheit“, an der sowohl der Likud als auch die Arbeitspartei zusammen mit etlichen kleineren Fraktionen teilnehmen, nicht ausgeschlossen werden.

Von einer „Verlangsamung des Friedensprozesses“ – der in den Monaten vor der Wahl zum Stillstand gebracht wurde – war nach den Wahlen sofort die Rede. Dabei war gerade einer der wichtigen Gründe für Peres' Niederlage seine zögernde, halbherzige Führung des Friedensprozesses – ohne eine wirkliche Lösung des Konflikts mit den Palästinensern. Dies war nicht überzeugend und führte zu einer Verunsicherung der israelischen Bevölkerung.

Nun befürchten die Palästinenser mit Recht, daß die bisher nur formell eingeleiteten Verhandlungen über eine endgültige Lösung über bislang ausgeklammerte, aber entscheidende Fragen – die Zukunft Jerusalems und der Siedlungen, die Bodenschätze, die Grenzziehung, das Problem der palästinensischen Flüchtlinge – nun noch schwieriger und langwieriger werden. Auch in den Verhandlungen mit Syrien kann kaum mit einer konzilianteren israelischen Haltung über die Zukunft des besetzten Golan und des besetzten Südlibanon gerechnet werden. Allerdings bleibt auch eine vom Likud gebildete Regierung weitgehend von der Politik und den Wünschen des Bündnispartners USA abhängig, die den Friedensprozeß unterstützen.

Der Sprecher der aus den Wahlen wesentlich gestärkt hervorgegangenen linken „Demokratischen Front“ (mindestens fünf Mandate, anstatt der bisherigen drei) sieht eine Gefahr in dem bei den Wahlen zum Ausdruck gekommenen „chauvinistisch-rassistischen Rechtstrend“, dem eine von Netanjahu geführte Regierung noch stärkeren Ausdruck verleihen würde. Die Demokratische Front beabsichtige, eine kämpferische Opposition zu bilden, der sich unter Umständen auch die mit arabischen Stimmen gewählte demoratische Liste Abdel Wahab Darhausches anschließen könnte. Als ein potentieller Oppositionspartner käme vielleicht sogar die linksliberale Meretz-Partei in Frage, die bisher ein wenig glücklicher Koalitionspartner der Arbeitspartei war und bei den gegenwärtigen Wahlen drei ihrer zwölf Mandate eingebüßt hat. Amos Wollin, Tel Aviv