Stelldichein mit Bodybuilder

■ Premiere im Schauspielhaus: In Urs Dietrichs Tanztheaterstück „Die Langsamkeit des Augenblicks“ treffen sich ein Freak, Töchter aus gutem Hause und der Kerl aus dem Kohlenkeller

Er ist ein Purist, ein haarscharfer Beobachter und strenger Sezierer. Urs Dietrich nimmt den Rhythmus der Straße auf, legt dessen Klänge und Impulse frei und verwebt sie in der Abgeschlossenheit der Bühne zu einem Gefüge, dessen Fäden vibrieren, wie die ungreifbaren Ahnungen eines ruhelosen Traumes. Darin setzt der Choreograph in seiner jüngsten Produktion für das Bremer Tanztheater, „Die Langsamkeit des Augenblicks“, ganz auf die Individualität seiner sieben Protagonisten. Er führt sie an den Rand ihrer ganz eigenen Utopien. Gefangen in diesem Netz, in dem letztendlich jeder seinen Platz hat, sind es seltene und ungeheuer befreiende Momente, wenn kurzfristig der Ausbruch gelingt. Meist prallt er ab an der Unmöglichkeit, aus der eigenen Haut zu fahren. Das schafft Situationen von verzweifelter Komik.

Nackt und schwarz rahmen die Mauern die Schauspielhausbühne. Der Ort gleicht einer Straßenecke bei Nacht. Im Dunkeln lassen sich schemenhafte Gestalten erkennen. Irgendwo raschelt es. Dann erscheint die schöne Fremde (Ditta Miranda Jasjfi) mit ihrem Koffer. Unschlüssig, wohin sie gehen soll, setzt sie sich immer wieder auf ihr Gepäck und reckt in einer hektisch-mechanischen Bewegungsfolge die Arme zur Decke. Der Manager (Gilles Welinski) im legeren Anzug schält sich aus der Wand, wild im Terminkalender blätternd. Später reißt er die Seiten raus, daß die durch die Luft wirbeln, stranguliert sich daraufhin beinahe selbst an seiner Krawatte. Ein Duett mit der Fremden hält beide für einen Moment in einem Schwebezustand. Irgendwann dringt er in ihre Sphäre ein, öffnet den Koffer, aus dem bunte Seidenblumen quellen. Die Zwillinge (Amaya Lubeigt, Barbara Marini), zwei kecke Mädchen aus „gutem Hause“, die Arm in Arm, die Riesentüte aus dem Designershop spazieren tragen, der Bodybilder (Leonard Cruz), der gerne seine Muskeln unter transparentem Shirt spielen läßt, der Pfundskerl (Roberto Giovanetti) aus dem Kohlenkeller und der Freak (Ziv Frenkel) in schlurfigen Turnschuhen geben sich ein Stelldichein.

Starke Typisierungen unserer heutigen Gesellschaft hat Urs Dietrich für seine Figuren ausgewählt. Doch vermeidet er erfolgreich, in Klischees zu fallen. Feinsinnig, sensibel und eigenwillig baut sich hier jede Tänzerin und jeder Tänzer ein eigenes Bewegungsgebäude, dessen Räume sich wie zufällig ineinanderschieben, wenn sich ihre Türen mitunter öffnen. Dann flackern Geschichten auf, die nicht festgehalten oder weitergesponnen werden, sondern allein in ihrer kurzen, lebhaften Präsenz überzeugen. Urs Dietrichs ansonsten eher spröder Konstruktivismus wandelt sich zu einer sinnlichen Poesie der Vergänglichkeit.

Der Titel des Stücks scheint verwirrend, suggeriert eine Beschaulichkeit, die sich in dieser nervösen Grundstimmung meist isoliert-abgezirkelter Aktionen kaum einstellen mag. Urs Dietrich zerlegt die Bewegung, schickt sie, ausgehend von einer minimalen Geste, weitgreifend in den Raum, läßt in schleifenartiger Wiederholung den Moment „auf der Stelle treten“. Begegnungen verfangen sich in einer ungewissen Balance, die für einen Augenblick die Zeit stillstehen läßt. Und immer wieder drängt sich das Warten in den Vordergrund, baut eine Spannung zwischen den Tänzern auf, die sich unmittelbar auf das Publikum überträgt und auf beiden Seiten die Konzentration auf die Spitze treibt, wie sich das Geschehen wohl fortsetzt.Unruhiges Fingertrommeln vermischt sich mit einer unterschwelligen Klangcollage aus rhythmischem Atmen, Schaben, Rascheln und Klopfen, die sich nur sporadisch in den Vordergrund schiebt. Die Musik bestimmt hier nicht die Bewegung. Jeder folgt einem eigenen Rhythmus. Dessen einzelne Stränge bleiben jedoch klar getrennt. Die anfänglichen Soli, in denen sich jede Figur vorstellt, überlagern sich mehr und mehr zu einem komplexen Ganzen. Urs Dietrich gelingt es mit „Die Langsamkeit des Augenblicks“, eine deutliche Versinnbildlichung des Miteinanders im Alltag auf die Bühne zu bringen.

Am Schluß sitzen sie alle im Kreis, beäugigen sich scheu und argwöhnisch, doch mit einem diffusen Wissen, daß sie irgendwie miteinander verbunden sind. Sie stehen auf, laufen im Kreis, einer dem anderen hinterher, bis sie an verschiedenen Stellen hinausgetrieben werden. Hinten öffnet sich die Tür, läßt das Tageslicht herein und mit ihm einen Schwall von Stimmen und Geräuschen. Diesen Alltag hat Urs Dietrich in einer präzisen Studie des Augenblicks abstrakt und dennoch voll Poesie zu einer Geschichte über das Warten, die Einsamkeit und Illusionen des Glücks verwoben, eine Geschichte, in der das Pochen verschiedener Herzen den Gang bestimmt.

Irmela Kästner

Nächste Aufführungen: 9., 13. und 16. Juni, jeweils um 20 Uhr im Schauspielhaus, Goetheplatz