Groove durch Bedienungsfehler

Der Mann ist plötzlich zeitgemäß und fühlt sich mittendrin: Der Sänger Nikolai Tomás hat seine Locken abgeschnitten, die Poems for Laila auf Eis gelegt und den Computer entdeckt  ■ Von Thomas Winkler

Nikolai Tomás sitzt vor mir, und es ist schwer zu glauben, daß die Wandlung, die offensichtlich mit ihm vorgegangen ist, einer „reinen Lustfrage“ geschuldet ist. „Das Rüschenhemd und die Brokathosen hab ich schon zwei, drei Jahre nicht mehr angehabt“, grinst er süffisant, „du hättest vielleicht in letzter Zeit mal zum Konzert kommen sollen.“ Tomás war Vorsänger, Kopf, manche glaubten auch Diktator der Poems for Laila, die mit ihrem ins Schmalzige lappenden Folkrock, der sich viel von osteuropäischen Volksmusiken und noch mehr von großen amerikanischen Gefühlen geborgt hatte, jahrelang ein fester Faktor der Berliner Szene waren. Zumindest was ihre Auftritte betraf.

„Live waren die Poems immer sehr erfolgreich, es gab niemals leere Konzerte“, erzählt Tomás heute, „aber die Platten haben diese Niveau nie erreicht.“ Stolz erfüllt ihn trotzdem, was seine alte Band betrifft, auch wenn sie „immer in der zweiten Liga gespielt“ hat, denn wenigstens hat er bisher noch „keine Poems-Platte auf dem Grabbeltisch oder mit einem Nice- Price-Aufkleber“ entdecken müssen, und „das ist doch schön“.

Die erwähnten Brokathosen waren damals ebenso Markenzeichen wie seine Stimme, die nicht davor zurückschreckte, alle Untiefen der menschlichen Gefühlspalette durch möglichst viele Dehnungen, Zerrungen, Kiekser und ein irrwitziges Timbre auszuloten. Der Mann konnte singen, daran war nicht zu zweifeln. Aber übertrieb er es nicht ein wenig?

Dann aber geschah etwas, was gestandenen Musikern, die ihre Gitarre streicheln, ehe sie ins Bett gehen, sonst eher selten passiert. Tomás entdeckte den Computer, lernte ihn „als Instrument zu sehen, was ich zuvor abgelehnt hatte. Dann habe ich mir TripHop-Sachen angehört, Massive Attack oder auch Portishead. Und das war schon ziemlich toll.“ Wie toll das war, kann man erfahren, wenn man sich „Wild On“, das erste Solowerk von Nikolai Tomás, zu Gemüte führt. Nur an seiner Stimme läßt sich noch der alte Tomás erkennen, und selbst mit ihr hat er sich sehr zurückgehalten. Die Musik ist „ruhiger“ geworden, sagt Tomás, und das ist zweifellos richtig. Die Samples hat er von alten Jazzplatten, die er sich „auf dem Flohmarkt für eine Mark gekauft“ hat, und diese warmen Klänge führen nun sanfte Meinungsverschiedenheiten auf mit bedächtigen Dance-Loops, die ihren Reiz auch daraus beziehen, daß der Programmierer erst seit zwei Jahren mit seinem neuen Instrument arbeitet: „Einige Stücke auf der Platte sind auch durch Bedienungsfehler entstanden. ,All I Wanna Do‘ hat eigentlich einen unsauber geschnittenen Loop, aber der groovt dadurch ganz anders.“

Der Mann, und das ist irgendwie komisch, ist plötzlich zeitgemäß und „fühlt sich mittendrin“. Und vor allem ist unglaublich, daß jemand mit Anfang 30 musikalisch zu neuen Ufern aufbricht, seine Band zum „Hobby“ degradiert, sein Aussehen radikal verändert, und dazu nur eines zu sagen hat: „Wenn ich Spaß habe, dann mach ich es.“ Die Wörter „Lust“ und „Spaß“ tauchen in diesem Gespräch inflationär auf. Auch die Konzerte mit den Poems for Laila hätten ihm „noch Spaß gemacht“, aber er hatte „eben keine Lust mehr, was Neues aufzunehmen“.

„Wohl gefühlt“ hat er sich mit den Poems, nun fühlt er sich „noch wohler“. Auch mit seiner neuen Frisur, der die prächtige Locke zum Opfer fiel. Aber auch die kurzgeschnittenen Haare sind nur ein Unfall. In der letzten Sylvesternacht landete eine Feuerwerksrakete auf seinem Kopf, „da mußte ich sie mir abschneiden“.

Das Schicksal also wies ihm den neuen Weg, der ihn möglicherweise dahin führt, wo auch die alte Band schon immer hinwollte: zum großen Erfolg. Als es die Poems for Laila Anfang 1988 noch nicht mal richtig gab, hatten sie bereits eine Managerin. Und als sie zweimal aufgetreten waren, war Tomás bereits Stadtgespräch, weil er Aktien an seiner Stimme zum Verkauf feilbot, ein Trick, „um Presse zu kriegen und das hat auch wunderbar funktioniert“.

Die Plattenfirma nun glaubt, daß ihr Mann nach einem langen vergeblichen Anlauf doch das Zeug zum Startum und mit „HI HI HI“ einen veritablen Sommerhit aus seiner CD ausgekoppelt hat, und dem möchte man nicht widersprechen. Auch wenn natürlich der alte Nikolai Tomás hin und wieder dann doch zum Vorschein kommt, so wie ausgerechnet im Titelsong „Wild On“, wo sich die Worte wieder nur schwer von seinen Lippen trennen mögen, bevor sie noch mal durchgeknetet werden.

Und sollte der finanzielle Durchbruch dann tatsächlich kommen, besteht auch nicht die Gefahr, daß jemand daran teilhaben möchte, der sich an gewisse verstaubte Papiere im heimischen Safe erinnert. Die Aktion mit den Aktien war zwar öffentlichkeitswirksam, betriebswirtschaftlich aber ein Reinfall: „Ich hatte 100 Aktien, habe aber nur vier an Freunde verkauft.“

Nikolai Tomás: „Wild On“, Vielklang/ EFA

Konzert am 2. 6. im Loft