Berti Vogts zählt auf drei

„1+1 ist nicht 2“, sagt Sammer: Nach dem 0:1 gegen Frankreich sind die deutschen Fußballer auf dem richtigen Weg zur EM – oder nicht  ■ Aus Stuttgart Peter Unfried

Im Fußball, das weiß jeder, kann man nie endgültig sagen, ob dies oder vielleicht eher das der richtige Weg ist. Was man sicher weiß, ist eigentlich nicht viel. Daß es gut ist, zu gewinnen. Womöglich aber auch kontraproduktiv sein kann. Spielt man in den letzten Tests gut – und gewinnt, hat man hinterher womöglich nichts als Ärger. Denn: Besser wird es nimmer, und Favorit ist man auch noch.

Insofern geht Berti Vogts nun also in die letzte Woche vor der EM – und tut so, als sei er zufrieden. Das Schöne an dem samstäglichen 0:1 gegen Frankreich nämlich ist, sagt Vogts: „Ja, klar, der Topfavorit heißt Frankreich.“

Hui, da brach ein teutonisches Gelächter aus im Stuttgarter Presseraum. Allein die Frage bleibt: Warum?

Die Fakten: Nationaltrainer Aimé Jacquet trainiert die französische Equipe seit 22 Spielen – und die ist seit 22 Spielen unbesiegt. Und im Neckarstadion konnte man zumindest ahnen: nicht zufällig.

Das Publikum kam meistenteils aus dem Pfeifen nicht mehr recht heraus, aber unrecht hat auch Jürgen Klinsmann nicht, wenn er sagt, das Spiel sei „vom Aufbau her sehr interessant“ gewesen und Frankreich „im taktischen Bereich sehr gut organisiert.“ Die hinten sich parallel bewegenden Thuram, Blanc, di Meco plus der an Position drei (von links) raffiniert vor- und zurückrochierende Desailly setzten dem Kapitän und dessen Probe-Assistenten Bobic mächtig zu. Wohin die beiden, und besonders der umtriebige Bobic, auch rannten – es war meist schon einer da.

Meist, aber nicht immer. Die Franzosen haben am Zubetonieren der Räume in Ballnähe (vulgo: „Verschieben“) hart gearbeitet, und neun Gegentore in den 22 Jacquet-Spielen zeugen davon. Insbesondere in der zweiten Hälfte aber, lobte der Bundestrainer, „haben wir Chancen erspielt gegen eine Fast-Fünferkette.“ Berti Vogts zählte – und kam bis mindestens drei. Frankreich hatte nur zwei. Klingt nach nicht viel: Doch in solch engen Spielen kann eine genug sein. Und: Die Analyse der Chancen stützt Vogts' Optimismus.

Tore in England werden fallen können, wenn a) eine mit Tempo durchgeführte Einzelaktion (Möller, Sammer, evt. Basler) ein Kräftegleichgewicht urplötzlich verändert. Oder wenn b) sich ein oder mehrere schnelle nach vorn gespielte Pässe aneinanderreihen (Häßler, Ziege, evt. Helmer, Bobic, Basler). Der schönste Moment des Spiels kam mit Mario Basler, der rechts „frischen Schwung brachte“ (Basler) und tatsächlich nach einer Stunde den schnellen Paß auf Bobic spielte, welcher wiederum ohne Verzögerung halbhoch in die Mitte zu Möller servierte. Es war Variante b), die auch über links fruchten könnte, wo Christian Ziege operiert. Den Vorwurf, eine notorisch defizitäre Defensivkraft zu sein, stärkte der Münchner mit einem berüchtigten Ziege-Foul vor dem 0:1. Andererseits kann der Mann genau so flanken, wie es gebraucht wird. Er tat es unter anderem in Vorbereitung von Klinsmanns Scherenschlag (76.).

Links ist das Angebot so groß im übrigen nicht. Berti Vogts' Team steht, und Ziege wird kommenden Sonntag gegen die Tschechen genauso spielen wie der noch schwächelnde Häßler und womöglich auch Fredi Bobic, der mit seiner vergleichsweise herausragenden Technik als Anspielstation und Ballverarbeiter Klinsmann kontrastieren und ergänzen kann. Der Kapitän steht wegen Sperre im Eröffnungsspiel nicht zur Verfügung, so daß morgen in Mannheim das Duo Kuntz/Bierhoff auf Tschechien-Tauglichkeit geprüft werden muß. Was Mario Basler anbelangt, ist zu vermelden, daß er rechts selbstredend „beide Rollen ausfüllen kann“. Steht allerdings für Defensive und Offensive nur eine Position zur Verfügung, wird Vogts mit ziemlicher Sicherheit dennoch auf Stefan Reuter (derzeit auch noch schwächelnd) zurückgreifen.

Und auf Matthias Sammer hoffen. Bei dem ist zumindest schon die Laune prima. „Noch bin ich nicht der Bundestrainer“, sprach der Bundes-Libero und lachte richtig herzlich. Alle lachten herzlich, weil die Niederlage ja den „richtigen Weg“ (Vogts) nachgewiesen hätte. Gute Laune, gutes Zeichen? „Jetzt aber mal ganz sachlich gesprochen“, sagte Sammer und tauschte sein Grinsen gegen seinen Sammer-Blick: „Der Fakt ist: Wir haben 1:0 verloren und können uns noch verbessern.“ So sieht es also aus, und das gilt auch für den Dortmunder, dessen lädierte Rückenmuskeln nach Überprüfung den Doktor Müller- Wohlfahrt „sehr zufrieden“ gestimmt haben.

„In der Medizin“, sagte Sammer erfahren, „ist 1+1 nicht 2.“ Sondern es bisweilen so, daß „Unwägbarkeiten auftreten“, und am Ende doch „plötzlich alles optimal“ sei. Bisweilen ist es in der Medizin auch so, daß Unwägbarkeiten eintreten – und dann der Tod. Aber dies ist, man muß es verstehen, nicht die Woche öffentlicher Selbstzweifel. Im Fußball, auch das sagt Matthias Sammer, „kann man nie sagen, ob das oder das der richtige Weg ist.“

Nachher schon. Aber dann richtig.

Frankreich: Lama - Thuram, Blanc, Desailly, Di Meco (66. Lizarazu) - Karembeu (85. Angloma), Deschamps - Guerin (81. Lamouchi), Djorkaeff, Zidane (46. Loko) - Dugarry (73. Pedros)

Zuschauer: 53.000 (ausverkauft)

Tor: 0:1 Blanc (6.)

Deutschland: Köpke - Sammer - Babbel - Reuter, Eilts (46. Freund), Helmer, Ziege (83. Scholl) - Möller, Häßler (46. Basler) - Klinsmann, Bobic