Schweißausbrüche vor Gericht

ZeugInnen stehen unter Druck, stottern, fühlen sich nicht ernst genommen. Beratungsstellen können ihnen helfen  ■ Aus Frankfurt Heide Platen

Im Foyer stehen PolizeibeamtInnen mit Maschinenpistolen. Sie bewachen den Eingang zum Sicherheitssaal des Gerichtsgebäudes E in Frankfurt. Rechts von der Pforte, im Durchgang, schließt Eric Holschuh die Tür zu einer anderen Welt auf. Im kellerdämmrigen Licht sieht es aus wie in einem Kinderladen. Auf dem Fußboden liegt eine Matratze. Plastik-Mickymäuse lachen von den Wänden, als seien sie in Disney World. Hier werden Kinder betreut, die als Zeugen aussagen müssen. Das Hinweisschild am Eingang ist unübersehbar groß: „Zeugenhilfe“.

Der Raum im ersten Stock, ein wenig versteckt vor dem Saal 22, ist winzigklein. Vor dem Schiebefenster steht eine Frau mit verweintem Gesicht. Sie fragt aufgeregt nach der Toilette. Die Sozialpädagogin Anita Klumbies gibt Auskunft. Sie weiß, daß gerichtliche Vorladungen den ZeugInnen auf die Blase schlagen. Auch selbstbewußte Menschen werden, für sie selbst überraschend, vor der Vernehmung in der öffentlichen Hauptverhandlung von Ängsten geplagt. Mündige BürgerInnen, die sich von der Polizei längst nicht alles gefallen lassen, bekommen vor der Tür des Gerichtssaals Schweißausbrüche.

Klumbies vergleicht den Gang zum Gericht mit dem zum Arzt: „Die Leute fühlen sich auf einmal ausgeliefert.“ Sie stehen unter Druck, wollen alles „richtig“ machen, fühlen sich undurchschaubaren Mächten ausgeliefert. Und sie haben oft „Angst, mißverstanden zu werden, etwas zu vergessen, etwas Falsches zu sagen“. Wie leicht könnte subjektive Wahrheit im Gerichtssaal auf einmal als Lüge erscheinen: „Ich sage hier etwas. Und die glauben nicht dran.“ Und: „Was passiert mir, wenn ich etwas Falsches sage?“

Oft komme der Frust erst hinterher. ZeugInnen betreten den Gerichtssaal ganz selbstsicher und verlassen ihn völlig aufgelöst. Sie haben bohrende, insistierende Fragen von Gericht, StaatsanwältInnen und VerteidigerInnen als Angriff auf ihre Integrität erlebt. Die Zeugenhilfe versucht, darauf vorzubereiten. Gerade ZeugInnen, die eine Straftat oder einen Unfall beobachtet haben und im Bewußtsein ihrer Pflicht als gute StaatsbürgerInnen gekommen sind, fühlen sich wie Beschuldigte behandelt und sagen: „Das mache ich nie mehr!“ Klumbies: „Sie kommen ganz schnell in die Situation, sich rechtfertigen zu müssen, haben Schuldgefühle.“

Kurt B. ist heute als Zeuge geladen. Er ist schon eine halbe Stunde vor Prozeßbeginn gekommen, denn er möchte dem Angeklagten auf keinen Fall auf dem Gerichtsgang begegnen. Jetzt äugt er durch die Fensterscheibe auf den Haupteingang. Der Angeklagte kommt mit der ganzen Familie. Kurt B. kennt sie gut. Sie haben unter ihm gewohnt. Fast zwei Jahre tobte die Nachbarschaftsfehde, bis sie eskalierte. Kurt B. fühlt sich völlig unschuldig. Immer wieder war er Beschimpfungen und schließlich einer gefährlichen physischen Bedrohung ausgesetzt. Dem Strafprozeß ist schon die Zwangsräumung seines Kontrahenten vorausgegangen. Jetzt soll er gegen den Mann aussagen. Kurt B. wischt sich die feuchten Hände verlegen an der Hose ab. Die Zeugenbetreuerin Birgit Schnitzler wird ihm Bescheid sagen, wenn sein Auftritt gefragt ist. Inzwischen raucht der Zeuge eine Zigarette nach der anderen.

Eigentlich will er gar nicht mehr, daß der Nachbar bestraft wird. Eigentlich will er etwas ganz anderes. Daß ihm Gerechtigkeit widerfährt, daß eine neutrale Instanz den Psychoterror und die Entwürdigung beendet und verurteilt. Die erste Zeugin in diesem Verfahren wird mit einer halben Stunde Verspätung in den Saal gebeten. Auch sie zittert, im Zeugenstand versagt ihr fast die Stimme.

Klumbies: „Die Ängste kommen von innen.“ Das ist wie Prüfungsangst, ein Alptraum, die ZeugInnen glauben alles vergessen zu haben, was sie sagen wollten. Klumbies: „Vor den Richtern fühlen sich erwachsene Menschen wieder als Kind, das gelernt hat, es darf nicht lügen.“ Dabei schüchtere die Eidesformel, egal ob weltlich oder kirchlich, mehr ein als erwartet. Ihr Kollege Eric Holschuh: „Jedes Wort kommt auf die Goldwaage. Man ist überhaupt nicht locker.“ Daß solche Ängste der Wahrheitsfindung dienen, bezweifelt Anita Klumbies: „Diese Zustände wirken eher verfälschend.“

Auch diejenigen, die vorher wünschten, daß ihr Gegner zur Hölle fahren solle, haben, so Sozialpädagogin Birgit Schnitzler, „eigentlich nicht gelernt, daß jemand für das, was er anderen angetan hat, eine Strafe bekommt“. Sie fühlen sich auf einmal schuldig: „Der muß jetzt vielleicht meinetwegen ins Gefängnis.“ Holschuh: „Traumatische Erlebnisse laufen hier plötzlich noch mal wie ein Film ab. Und viele Ängste sind keineswegs irreal.“ Die Zeugenhilfe schützt Betroffene, die sich davor fürchten, demjenigen, der sie überfallen, bedroht, entwürdigt hat, gegenüberzutreten. Anita Klumbies: „Kinder leiden besonders, wenn sie vor fremden Menschen aussagen müssen. Und sie wissen schon genau, wieviel von ihrer Aussage abhängt.“ Sie möchte, daß mit den Kindern schonend umgegangen wird, vor allem dann, wenn sie sexuell mißbraucht wurden und Fremden ihre Leidensgeschichte erzählen müssen: „Sie sind Beweismittel. Das kann man nicht ändern.“ Deshalb begrüßt die Zeugenhilfe, Beweismittel hin oder her, alle gesetzgeberischen Initiativen, die Kindern den Zeugenstand erleichtern, sie vor Voyeurismus und neuen traumatischen Erfahrungen schützen.

Die Frankfurter Zeugenhilfe arbeitet seit August 1993, eine zweite in Limburg, mit der inzwischen 90 Prozent aller ZeugInnen Kontakt aufnehmen, seit 1985 – ein Erfolg. Die beiden Zeugenberatungs- und vier Opferberatungsstellen in Hessen werden vom Land finanziert. Monatlich werden in Frankfurt 120 Menschen betreut, in Hessen insgesamt waren es im letzten Jahr 1.549 Frauen und 2.312 Männer. Der Anteil ausländischer KlientInnen ist relativ gering. Und wenn sie kommen, dann suchen mehr Männer als Frauen Rat und Hilfe. Sie können sich vor der Verhandlung den Gerichtssaal ansehen, bekommen erklärt, wer wo sitzt und welche Aufgabe hat. Viele fragen auch: „Muß ich überhaupt kommen? Ich habe doch alles schon bei der Polizei gesagt.“ Dann ist Nachhilfe in Staatsbürgerkunde und über den Sinn der Gewaltenteilung notwendig.

Die Arbeit der Zeugenhilfe ist „Learning by doing“. Wissenschaftliche Auswertungen gibt es noch nicht. Im Gericht wird die Arbeit der Zeugenhilfe unterschiedlich bewertet, aber zunehmend geschätzt. Es diene der Sache, haben auch vormalige GegnerInnen anerkannt, „wenn ein Zeuge nicht so aufgeregt ist“. Mit dem Gericht zu tun zu haben empfinden vor allem ältere Leute oft als „an sich ehrenrührig: Ich habe mir doch noch nie was zuschulden kommen lassen“. Jugendliche wehren sich eher, wenn sie das Gefühl haben, als ZeugInnen wie Angeklagte behandelt zu werden: „Bin ich hier der Angeklagte, oder was?“

Der Tag ist „relativ ruhig“. Einige Jugendliche sollen wegen Körperverletzungen ausgesagen. Sie sind überfallen und beraubt worden und wollen im Gerichtssaal nicht mit den Angeklagten zusammentreffen. Sie fürchten Repressalien, wenn ihre Namen und Anschriften bekannt werden. Schnitzler: „Da müssen die durch.“ Ihnen müsse erst einmal erklärt werden, daß Angeklagte und deren AnwältInnen die Adressen der ZeugInnen schon längst aus den Akten kennen: „Dann sind sie erst einmal entsetzt. Wir sagen ihnen, daß wenn, dann schon längst was passiert wäre.“

Birgit Schnitzler erinnert sich an eine Frau, deren Tochter getötet wurde. Sie mußte nicht nur die Konfrontation mit dem Täter, sondern auch kränkende Fragen zum Lebenswandel ihres toten Kindes ertragen. Die Frau habe überzeugend reagiert. „Wenn meine Tochter dadurch wieder lebendig würde, dann würde ich auch lügen“, hat sie gesagt. So aber habe es für sie keinen Sinn, dem Angeklagten schaden zu wollen. Rachebedürfnisse, hat Holschuh bei ZeugInnen nur selten festgestellt. Traumatische Erlebnisse werden oft durch übersprudelndes Mitteilungsbedürfnis, durch Erzählen und Wiederholen verarbeitet. Schnitzler: „Die legen sofort los und denken, wir kennen die Akten.“ Da gilt es manchmal auch, Distanz zu wahren. Parteilichkeit können sich die BetreuerInnen nicht leisten, wenn gleichzeitig die Frau eines Angeklagten und die Mutter der von ihm Getöteten Schutz und Hilfe suchen.

Der Prozeß gegen den Nachbarn von Kurt B. ist schon zu Ende. Das Verfahren wurde gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Kurt B. mußte gar nicht erst in den Zeugenstand. Einerseits ist er erleichtert, andererseits auch unzufrieden. So viel hat er sagen wollen, nichts davon ist gehört worden.