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Mit Schnuller und Baseballmützen

20 Prozent der 70 Millionen amerikanischer Kinder und Jugendlicher wachsen heute in Armut auf. 200.000 demonstrierten am Wochenende gegen die Aufhebung des Sozialhilfesystems  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Herbert Grönemeyer hätte seinen Spaß gehabt. Es gab zwar keine Gummibärchen, aber dafür Hot dogs und Schokokringel im Überfluß. Die Ärzte, die im Ambulanzzelt aufgeschürfte Knie und Sonnenstiche behandelten, trugen Clownsnasen. „Kinder an die Macht“ stand auf dem großen Schild, das ein Vierjähriger ebenso mühsam wie entschlossen in die Höhe reckte. „Wir wollen Schulen, keine Knäste“, skandierten Oberschüler, während ein paar Winzlinge mit Schnuller im Mund und Baseballmützen auf dem Kopf das Treiben aus ihren Kinderwagen verfolgten. Über 200.000 Kinder, Jugendliche und um den Nachwuchs besorgte Erwachsene waren am Samstag auf der „Mall“, der Grünanlage im Washingtoner Regierungsviertel zwischen Kapitol und Lincoln-Denkmal, zusammengekommen, um „für die Kinder“ zu demonstrieren.

So vage das Motto der Demo, so konkret waren die Zahlen, mit denen der „Children's Defense Fund“, die größte US-Lobby-Organisation für die Belange minderjähriger Amerikaner, monatelang für diese Veranstaltung mobilisiert hatte: 20 Prozent der rund 70 Millionen amerikanischen Kinder und Jugendlichen wachsen mittlerweile in Armut auf. Zehn Millionen Kinder sind ohne Krankenversicherung. Jährlich werden von den Sozialeinrichtungen rund 850.000 Fälle von Kindesmißhandlung und -vernachlässigung registriert. Die Mordrate für Teenager hat sich in zwanzig Jahren verdoppelt. Die Zahl der Schwangerschaften minderjähriger Mädchen ist rapide gestiegen.

Damit nicht genug, so argumentiert Marian Wright Edelman, Vorsitzende des „Children's Defense Fund“ und (noch) enge Freundin der Clintons: „Jetzt schlagen Politiker auch noch Maßnahmen vor, die Millionen weiterer Kinder in Obdachlosigkeit, Armut und Hunger treiben würden.“ Edelman meint vor allem die geplante Auflösung des bundesweiten Sozialhilfesystems mit seiner garantierten Mindestversorgung für Kinder. Während Gruppen wie der „Children's Defense Fund“ für die Erhaltung bundesweiter Sozialprogramme und eine Umverteilung von Haushaltsmitteln zugunsten des Erziehungs- und Gesundheitssektors kämpft, beschuldigt die „Heritage Foundation“ – jener erzkonservative think tank der Republikaner – Edelman und ihre MitstreiterInnen, „den Sozialstaat wieder auszuweiten“ und eine „Kultur der Abhängigkeit vom Staat“ zu fördern.

Beide Seiten repräsentieren das Dilemma der gegenwärtigen Sozialstaatsdebatte in den USA: Staatliche Hilfe für Kinder auszubauen trifft in der Öffentlichkeit mehrheitlich auf Zustimmung, während man Sozialprogramme für Erwachsene – vor allem für alleinerziehende Mütter – streichen will. „Ein völlig falscher Gegensatz“, meint Lois Salisbury, Direktorin von „Children Now“, einer Lobbygruppe für Kinder in Kalifornien. „Die Probleme der Kinder kann man nicht behandeln, wenn man die der Eltern ignoriert.“

Der Präsident, höchstselbst ein erklärter Freund der Kinder, sitzt derzeit wieder einmal dort, wo er sich nach Meinung vieler Kommentatoren am liebsten plaziert: zwischen allen Stühlen. Die Republikaner attackierte er am Wochenende, weil ihre geplanten Einschnitte in der Krankenversicherung massiv Kinder betreffen würden. Gleichzeitig hat sich Bill Clinton jedoch mit der Abschaffung bundesweiter Sozialprogramme auf Kosten alleinerziehender Mütter einverstanden erklärt – ein Schritt, der ihm einen harschen öffentlichen Brief seiner Freundin Marian Wright Edelman in der Washington Post einbrachte. Wie immer in Zeiten, in denen mit politischen Argumenten nicht viel zu gewinnen ist, appellierte Edelman an die Moral und den Glauben des Präsidenten: „Glauben Sie, die Propheten des Alten Testaments oder Jesus Christus würden solche Maßnahmen gutheißen?“ Der Vergleich hinkt, wie auch Edelman weiß: Jesus mußte sich nie zur Wiederwahl stellen.

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