Europas Atem sind seine Sprachen

Der französische Wissenschaftler Hagège schreibt ein fulminantes Buch über den europäischen Sprachenreichtum und gegen die Alleinherrschaft des Englischen. In der Europapolitik ist eine Debatte über Sprachenkultur nötig, meint  ■ Hartmut Kugler

„Welche Sprache für Europa?“ Auf diese Frage steht die Antwort von Technikern, Naturwissenschaftlern, Flugkapitänen und Rockmusikern längst fest: Englisch, was sonst? Englisch, genau genommen Angloamerikanisch, ist die Sprache der Sieger der Geschichte, die Sprache der weltweit operierenden Konzerne, der interkontinentalen Unterhaltungskultur, auf Englisch flimmert MTV, atmet Marlboro, jauchzt Madonna, gluckert Coca-Cola. Englisch ist die Sprache der Verheißung des Global Village: ein Dorf, eine Sprache; und Dorfstraße ist die ganze Welt. Die Vision ist verlockend, aber auch tückisch; und Hagèges Vision ist es nicht. Der berühmte Sprachwissenschaftler, Professor am Collège de France in Paris, hält die Idee der Mehrsprachigkeit dagegen.

Der Haupttitel der deutschen Buchausgabe, der so suggestiv nach einer Sprache für Europa fragt, stammt nicht vom Autor, sondern dürfte als Verkaufsargument des Verlages aufgestülpt worden sein. Er verfremdet die Intention des Buchs. Die französische Originalversion (Paris 1992) hieß „Le souffle de la langue“, „Der Atem der Sprache“, und die Atembewegung, die da gemeint ist, besteht im Hin und Her der vielen Sprachen, die den europäischen Raum seit je angefüllt haben. Ein Europa, das auf eine Einheitssprache verpflichtet wäre, hätte aufgehört zu atmen. Sein kultureller Reichtum, seine Erneuerungs- und Innovationskräfte hatten, soweit sich die Geschichte bis in die Eiszeit zurückverfolgen läßt, immer einen starken Antrieb in der Konkurrenz der verschiedenen Sprachen. Jede Sprache hat einen anderen Weltentwurf, schafft dem Denken einen anderen Zugang zur Welt. Die Zugänge unterscheiden sich oft nur um Nuancen, aber gerade in diesen liegt viel produktive Energie.

Sprache ist mehr als die Weitergabe von Informationen. Hagège beschwört gegen den Zeitgeist eines ökonomischen Rationalismus der Geschäftsabschlüsse die Einsicht, daß es lebens- und überlebensnotwendig ist, die emotionalen Valeurs und die ästhetische Dimension der einzelnen Sprachen gelten und wirken zu lassen. Ihre „klangliche Vielfalt“ sei wie ein reich instrumentiertes Symphoniekonzert. Er dreht das Sprachenkaleidoskop vom Portugiesischen und Irischen im Westen bis zum Baschkirischen am Ural und Tatarischen am Schwarzen Meer, bezieht auch Arabisch und Türkisch ein; sie alle haben das kulturelle Profil Europas mit geprägt. Besonders den in der Geschichte oft gedrückten und gejagten Sprachen gilt seine Sympathie; dem Jüdisch- Spanischen und dem Jiddischen, dem vom Germanisierungsdruck zerquetschten Altpruzzischen. Über 1.000 Jahre Sprachengeschichte läßt er vorüberziehen und liefert prägnante, freilich oft allzu knappe Skizzen über die Teilung, Förderung, Auferstehung der Sprachen.

Auch wenn der Autor selbst 15 oder 17 Sprachen beherrscht, gibt er sich nicht als tagesferner Sprachenfreak. Sein Buch ist eminent politisch und hat ein aktuelles Anliegen; und das geht besonders die deutsche Sprache an. Hagège präsentiert Deutsch mit Englisch und Französisch zusammen als eine der drei wichtigsten „Gemeinschaftssprachen“, die im künftigen Europa vor allem dazu „berufen“ seien, die überregionale Kommunikation zu tragen.

Deutsch als dritte „Gemeinschaftssprache“

Diese Gleichstellung ist vor allem im Blick auf die Sprachenpolitik der Europäischen Union interessant. Auf den Brüsseler Büroetagen sind bisher allein Französisch und Englisch als Geschäftssprachen in Gebrauch. Deutsch, die Sprache des Wirtschaftsriesen, hält sich mit den anderen Mitgliedssprachen im Hintergrund und tut aus historischen Gründen gut daran, nicht in die erste Reihe zu drängen. Wenn jetzt von unverdächtiger und ebenso potenter wie kompetenter Seite dem Deutschen größeres Gewicht beigelegt wird, so zeigt sich hier ein neuer Trend. In Frankreich scheint man sich mit dem Gedanken anzufreunden, daß Deutsch als dritte Geschäftssprache in der EU verwendet werden könnte. Hagège schlägt das nicht vor, aber seine Argumentation geht in die Richtung.

Ein Motiv Hagèges sind „die Frustrationen, die durch die Vorherrschaft des Angloamerikanischen in Europa wachgerufen werden“ (S. 91). Sein Plädoyer für eine Positionsverstärkung des Deutschen kommt aus der Einsicht, daß praktisch nur so die Chance besteht, die Entwicklung zu einer Mehrsprachigkeit zumindest offenzuhalten und einen „Durchmarsch“ der Globalsprache Englisch zu verhindern. Neben Englisch sollen Französisch und Deutsch ein „dreisprachiges Gleichgewicht“ garantieren können: Französisch hat über lange Zeiträume hin, besonders im 12./13. und im 17./18. Jahrhundert, das Profil der europäischen Kultur geprägt; der deutsche Sprachraum liegt in der Mitte des Kontinents, hat die größte Sprechergemeinschaft und 4.850 Kilometer Grenzen mit 15 Sprachnachbarn. Alle anderen Sprachen haben demgegenüber nach Hagèges Urteil weniger in die Waagschale zu werfen. Das muß vor allem die Spanier und die Italiener schmerzen. Die „Glanzzeiten des Italienischen“ werden auf knapp anderthalb Seiten als etwas Vergangenes abgetan und können „keinen definitiven Anspruch auf den Status einer europäischen Gemeinschaftssprache verleihen“ (S. 26). Noch weniger Anspruch habe Spanisch; seine eigentliche Bedeutung liege in Amerika.

Deutsch in den Rang einer Hauptsprache einzuweisen ist Hagège sichtlich schwergefallen. Er hat Vorbehalte gegenüber einer Sprachregion, aus der das ausgreifendste Gewaltregime der europäischen Geschichte hervorgebrochen ist. „Lebensraum“ und „Drang nach Osten“ sind ihm Schlüsselwörter des deutschen Denkens, und er sieht eine Langzeitlinie der Expansionsbereitschaft verlaufen von der Hanse und den gepanzerten Deutschordensrittern bis zum SS-Orden und den Panzern der Firma Krupp. Mit den deutschen Juden sei der europäische Einfluß des Deutschen vernichtet worden, wie überhaupt Europa mit den Juden seine Polyglotten verloren habe, die eigentlichen Europäer, die oft genug aus der Not der Verfolgten heraus bewiesen hätten, daß ein Leben in der Mehrsprachigkeit möglich sei.

Sprachmacht und Wirtschaftsmacht

Nicht Sympathie und nicht Kulturleistungen haben Hagège zu seiner Aufwertung des Deutschen bewogen, sondern Staatsräson und Wirtschaftsmacht. Das Prestige einer Sprache ist an die Macht seiner Träger gebunden. Diesem schon von der Académie Française des 17. Jahrhunderts hochgehaltenen Grundsatz ist Hagège einseitig stark verpflichtet. „Eine wirtschaftliche Weltmacht widmet der Verbreitung ihrer Sprache die gleiche Aufmerksamkeit wie der Eroberung von Absatzmärkten.“ (S.37) Der Satz zielt auf die USA und provoziert zugleich alle anderen Mächte, die nicht Angloamerikanisch sprechen und ihre Märkte trotzdem ausdehnen möchten.

Im Gedanken der Zusammenführung von Sprache und Macht steckt freilich auch eine Warnung, die Warnung vor der Illusion, daß der welthistorische „Fortschritt“ immerzu auf Vereinheitlichungen der Systeme wie der Sprachen zulaufe. Dem menschlichen „Dialogtrieb“ und der „Sehnsucht nach Vereinigung“ standen noch jedesmal in der Geschichte das Streben nach „Andersartigkeit“ und der „Drang nach Selbstbehauptung durch Sprache“ entgegen (S. 36). Man denke nur an das Schicksal des Lateinischen. Es hat als Gemeinsprache des Imperium Romanum so viele Jahrhunderte lang regiert und seine Monopolstellung am Ende doch zugunsten zentrifugaler Kräfte verloren.

In einem wie immer realisierten „Vereinten Europa“ muß die US- amerikanische Lösung des Sprachproblems (one country, one language) ausscheiden. Der europäische Raum umfaßt viele Sprachen, die hier und sonst nirgends „zu Hause“ sind, deshalb gehört die Mehrsprachigkeit zu den unveräußerlichen Prinzipien. Aber wie viele Sprachen kann und soll ein normaler Europäer lernen? Nach Hagèges Vorstellung wohl mindestens zwei. Und eine davon soll eine der drei „Gemeinschaftssprachen“ sein, entweder Englisch, Französisch oder Deutsch, je nach der Nachbarschaft. Der Gesichtspunkt der Sprachnachbarschaften hat für Hagège großen Wert; zweifellos mit Recht. Im sprachlichen Grenzraum etwa zwischen Spanien und Frankreich oder zwischen Italien und Österreich liegt es in der Tat nicht nahe, daß man sich auf Englisch verständigt. In Frankreich werde Englisch mehr gelehrt als gebraucht. „Die Mehrheit der französischen Führungskräfte hat nur Englisch gelernt, während drei Viertel des Außenhandels mit nichtanglophonen Ländern abgewickelt“ werden (S.94).

Hagège bietet kein Modell eines europaweiten Fremdsprachenerwerbs und will es nicht bieten. Hätte er es gewollt, so hätte er sich über so wichtige Kategorien wie aktive und passive Sprachkompetenz äußern müssen, über die Unterscheidung von Sprachniveaus, über die Differenzen von Urlaubs-, Geschäfts-, Fach- oder Salonkultursprache etc. Sein Buch zielt ins Grundsätzliche und kämpft gegen den herrschenden politischen Trend an, der die Vielsprachigkeit Europas als ein mehr oder weniger lästiges Anhängsel der Industrie- und Finanzpolitik nebenher mitschleift. Die Europapolitik braucht eine Debatte über Sprachenkultur, und Hagège liefert wichtige Anstöße. Die Philologenzunft sollte ihm dafür, daß er die europäische Rolle der deutschen Sprache neu und ohne Nationalismusverdacht thematisiert, dankbar sein und das Gesprächsangebot aufgreifen.

Claude Hagège: „Welche Sprache für Europa? Verständigung in der Vielfalt“. Aus dem Französischen von Victor von Ow, Campus Vlg., Frankfurt a.M. 1996, 241 S., 68 DM

Hartmut Kugler ist Professor für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Erlangen