Gesucht: Ein Vater im Libanon

Der 35jährige Kölner Michael ist bei Adoptiveltern aufgewachsen. Jetzt will er seinen leiblichen Vater finden. Die Spur führt nach Beirut  ■ Von Björn Blaschke und Tarek Chafik

Schweiß perlt auf der Stirn des jungen Mannes, die Gläser seiner schwarzen Hornbrille sind beschlagen. Angestrengt schiebt er einen vollen Gepäckwagen vor sich her und versucht sich im Menschengewühl des Frankfurter Flughafens zu orientieren. Erst als er seine Koffer eingecheckt hat und die Boarding Card in der Innentasche seines Jacketts verschwunden ist, entspannen sich seine Gesichtszüge ein wenig. Es ist soweit: Für den 35jährigen Michael*, von Beruf Grafikdesigner mit Büro in Köln, beginnt die Suche nach einem Mann namens Hassan as-Sabahly, libanesischer Staatsbürger, ungefähres Alter: 60 Jahre. – Michaels leiblicher Vater.

„Mehr konnte mir meine Mutter nicht über den Mann erzählen“, sagt Michael, während er seine Brillengläser putzt. „Es war schon sehr aufregend für mich, als ich vor zehn Jahren meiner leiblichen Mutter Gudrun gegenüberstand. Sie hatte Hassan 1959 im Kölner Karneval kennengelernt.“ Die Rendezvous der beiden konnten nur heimlich stattfinden. Von Gudruns Liebe zu einem Ausländer durfte ihr Vater nichts erfahren. Drei Monate später war sie schwanger, und als Hassan kurze Zeit darauf Deutschland wieder verließ, erfuhr er nichts von seinem Nachwuchs. Wenige Tage nach seiner Geburt wurde Michael zur Adoption freigegeben, weil es sein Großvater so wollte.

35 Jahre danach steigt Michael in einen Airbus, um Hassan zu suchen. Ziel des Flugs Nummer 288: die libanesische Hauptstadt Beirut. Im Verlauf des dreieinhalbstündigen Fluges spekuliert Michael einmal mehr darüber, aus was für einer Familie sein Vater wohl stammen mag. Lebt er überhaupt noch, oder ist er vielleicht einer derjenigen, die den 15jährigen Bürgerkrieg im Libanon nicht überlebt haben? Besteht überhaupt eine reelle Chance, „fündig“ zu werden? Zumindest über die ersten Schritte seines Vorhabens ist sich Michael im klaren. Das Informationsministerium und das Goethe-Institut sollen seine ersten Anlaufstellen werden. „Ich hoffe, dort irgend jemanden zu treffen, der mir dabei hilft, Telefonbücher zu wälzen und herumzutelefonieren. Am liebsten wäre mir natürlich so etwas wie ein Einwohnermeldeamt. Aber ob es das im Libanon gibt?“ Einmal mehr verrät Michaels Mimik, daß er selbst am glücklichen Ausgang seines Unternehmens zweifelt. Doch für Zweifel ist es zu spät. Um 19.30 Uhr landet die Maschine, und kurz darauf betritt Michael erstmals in seinem Leben libanesischen Boden.

Der Taxifahrer hatte ihm eine billige Unterkunft versprochen. Glücklich, die halsbrecherische Tour heil überstanden zu haben, steht Michael vor dem Eingang des Hotel Glayeul – einer echten Spelunke, dafür jedoch in zentraler Lage und mit Blick auf das Mittelmeer. Ein schmaler Treppenaufgang führt in das Foyer. Der schwere Geruch von kaltem Rauch, Desinfektionsmitteln und feuchten Wänden lastet auf dem nur spärlich eingerichteten Raum. Gelangweilt verfolgen drei Damen, die unter sich ein altes Sofa begraben, das Fernsehprogramm. Michael will gerade im voraus zahlen, als sich eine der Frauen an ihn wendet. „Hey, your hair is very dark. Are you from Egypt“? – „Egypt? No, I'm from Germany.“ Ohne weitere Fragen abzuwarten, geht Michael in sein Zimmer.

Das dröhnende Geräusch eines Kettenfahrzeugs reißt ihn am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Direkt neben dem Glayeul liegt das altehrwürdige St.-Georges- Hotel, früher eine der besten Adressen für die zahlungskräftigen Besucher Beiruts. Heute wird das Gebäude von einem Trupp syrischer Soldaten bewohnt. Mißtrauisch beäugen die Uniformierten Michael, als er das St. Georges auf dem Weg hinter sich läßt. Er will nur zwei Dinge: ein kurzes Frühstück in einem Café und danach ein Taxi zum Goethe-Institut.

Als Wolfgang Uhle, der Leiter des Goethe-Instituts, Michaels Anliegen hört, greift er sofort zum Telefonbuch. Unter dem Namen as-Sabahly findet er mehrere Eintragungen. „Ich versuche es einfach mal“, sagt Uhle und hängt auch schon an der Strippe. Kein Anschluß. Auch unter der zweiten Nummer meldet sich niemand. „Gerne würde ich Ihnen weiterhelfen, aber mein Terminplan...“, bedauert Uhle und bittet seine libanesische Mitarbeiterin Emelie Asouri, die Recherche fortzuführen. In den nächsten drei Stunden läutet die junge Frau sämtliche as- Sabahlys in den verschiedenen Städten des Landes an. Dabei hat sie mit dem Zustand des Telefonnetzes zu kämpfen – häufig winden sich die Leitungsknäuel in nur wenigen Metern Höhe von einer Fassade zur nächsten.

„Dein Vater kommt entweder aus Beirut oder aus Tyros“, verkündet Emelie, als sie endlich den Hörer auflegt. „Du wirst dich um 13.30 Uhr mit einem gewissen Ali as-Sabahly im Dar al-Fatwa treffen. Sein Vater hieß Hassan und war als Journalist oft in Europa. Allerdings – er ist 1972 verstorben.“ Michael wird blaß, doch Emelie fährt unbeeindruckt fort: „Dann ist da noch die Sippe der Sabahlys in Tyros. Insgesamt muß diese Familie sehr groß sein. Dem Mann dort am anderen Ende der Leitung fiel spontan kein Familienmitglied mit Vornamen Hassan ein. Aber er beteuerte, das habe nichts zu sagen. Er versprach, sich morgen bei mir zu melden.“

Das Dar al-Fatwa, das „Haus des Rechtsgutachtens“, ist der Sitz des religiösen Oberhauptes der sunnitischen Muslime im Libanon. Über breite Teppiche, die den Marmorboden schmücken, wird Michael zu Ali as-Sabahly geführt, der hinter einem großen Schreibtisch residiert. Ali kommt ohne Umschweife zur Sache: Sein Vater sei in Beirut der einzige mit dem Namen des Gesuchten gewesen, und er habe – bevor er 1972 starb – niemals deutschen Boden betreten. Bevor er Michael hinauskomplimentiert, verspricht Ali, sich weiter umzuhören.

„Mir war vom ersten Augenblick an klar, daß Ali nicht mein Halbbruder sein kann. Die Nase, die Augen ..., da war nicht ein Fünkchen Ähnlichkeit festzustellen.“ Auch nach dem zweiten Cappuccino im Café de Paris ist Michael anzumerken, daß das Telefonmarathon und das Treffen mit Ali nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sind. Mißmutig inhaliert er den Rauch einer Zigarette und nuschelt etwas von der „fehlenden Computervernetzung – so wie wir das in Europa kennen“. Er kann jetzt nur noch auf sein Treffen mit Emelie hoffen.

Für den nächsten Tag sind die beiden im Beiruter Kongreßzentrum „Futuroscope“ verabredet. Emelie ist sehr aufgeregt, als Michael eintrifft. Eigentlich sollte sie den Stand des Goethe-Instituts beaufsichtigen, der dort anläßlich einer Buchmesse aufgebaut ist. Als sie Michael in einiger Entfernung sieht, rennt sie sofort auf ihn zu, ohne sich weiter um Goethe, Schiller und den Rest der deutschen Klassiker zu kümmern. „Ruf sofort unter dieser Nummer an. Es gibt in Tyros einen Hassan as-Sabahly, und er war 1959 in Deutschland.“ Das nächste Telefon ist nicht weit. Dann die ersten Worte zwischen Vater und Sohn: „Hallo, this is Michael – guten Tag, sprechen Sie deutsch? Ja, mir geht's gut, danke. Ich bin in Beirut. Können Sie sich an Köln 1959 erinnern? Und an Gudrun?“ Wie er es zuvor geplant hatte, gibt Michael sich als ein Freund von Gudrun aus, von der er Grüße übermitteln soll. Schließlich verabreden sich beide noch für den selben Abend in Tyros.

Es ist schon lange dunkel, als er in Tyros eintrifft. Bereits weit vor der Stadt hat das Taxi den letzten Checkpoint passiert. Nur wenige Kilometer trennen Tyros von der israelischen Sicherheitszone im Süden des Landes – hier haben weder syrische noch libanesische Soldaten das Sagen; hier regiert die Hisbollah. An dem verabredeten Treffpunkt wird Michael von Samir as-Sabahly, einem Bruder Hassans, empfangen und in seine Wohnung geführt. Hausangestellte aus Sri Lanka servieren auf silbernen Tabletts Kuchen und Erfrischungsgetränke. Nach und nach füllt sich das Wohnzimmer. Jedesmal wenn ein neues Mitglied den Raum betritt, rutscht Michael nervös auf der teuren Ledergarnitur umher. Endlich kommt ein bärtiger Mann mit einer dicken Brille durch die Tür. Ein Seitenscheitel teilt seine schütteren Haare, eine Abenteuerweste umspannt den runden Bauch. Nach 48 Stunden im Libanon hat Michael sein Ziel erreicht – vor ihm steht sein Vater.

„Haben Sie schon zu Abend gegessen?“ ist das erste, was Hassan von seinem Sohn wissen will. Geschlossen begibt sich die Gesellschaft in das beste Restaurant von Tyros. Dort erzählt Hassan aus seinem Leben: Als einziger von insgesamt acht Geschwistern habe er nicht geheiratet und keine Kinder gezeugt – Weltenbummler könnten so etwas nicht. Er sei in Afghanistan und im Iran gewesen, habe in London gelebt und im Fernen Osten. Heute ist er Geschäftsmann – in den USA und in Argentinien. Michael hat unbeschreibliches Glück: Hassan ist – nachdem er 1959 Deutschland verlassen hatte – nur zweimal im Libanon gewesen, und das nur für wenige Tage. Sein jetziger Besuch sei gar nicht geplant gewesen. Nur weil seine Mutter erkrankt ist, sei er angereist.

Worte wie „Schicksal“ und „Glück“ strömen aus Michael hervor, nachdem ihn spätnachts ein Chauffeur in einem Chevrolet vor das Glayeul in Beirut gefahren hat. An diesem Abend hat Michael Hassan seine wahre Identität noch verschwiegen. Erst am darauffolgenden Tag, als die beiden sich noch einmal alleine treffen, eröffnet er Hassan, daß er sein Sohn ist. „Er hat geweint“, sagt Michael danach, „und jetzt werde ich die gesamte Familie kennenlernen.“

Als er zwei Tage später das Gartentor zu der Wochenendvilla der as-Sabahlys aufstößt, sieht er sich 50 Verwandten gegenüber. Vier Onkel, drei Tanten sowie deren Ehepartner, Kinder und Kindeskinder sind zu Ehren des verlorenen Sohnes zusammengekommen. Insgesamt umarmen ihn 24 Cousins und Cousinen. Die Namen rauschen an Michael vorbei. „Du mußt sie dir nicht alle auf einmal merken“, beruhigt Hassan ihn und reicht ihm einen doppelten Whisky. Es dauert, bis die Schar an der zwölf Meter langen Tafel Platz genommen hat. Während die Köstlichkeiten des Libanons aufgefahren werden, machen Familienanekdoten die Runde. Da gibt es etwa einen Omar Sharif, der – im Gegensatz zu dem Filmstar – wirklich so heißt. Das war allerdings der Bankangestellten nicht bekannt, die im Auftrag eines in Dubai ansässigen Sabahlys Geld auf das Konto des falschen Omar Sharif überwiesen hat und damit den Schauspieler kurzzeitig noch reicher machte. Und dann ist da noch Rafiq Hariri. Der ist der Cousin eines Schwagers von Hassan, nebenbei Ministerpräsident des Zedernstaates und einer der reichsten Männer der Welt. „Das ist der Libanon“, lacht Hassan, „und du sollst mehr davon erfahren.“

Eine Woche lebt Michael bei seiner neuen Familie, dann naht die Stunde des Abschieds. Hassan läßt es sich nicht nehmen, seinen Sohn persönlich im Chevy zum Flughafen zu fahren – die Flasche Johnny Walker griffbereit im Handschuhfach. Es werde noch eine Weile dauern, bis er sein plötzliches Vaterglück verdaut habe, erzählt Hassan. Michael sei zwar ein erwachsener Mann, dennoch wolle er sich künftig viel um ihn kümmern – und erledigt prompt für seinen Sohn sämtliche Formalitäten vor dessen Abflug. Eine letzte Umarmung, Grüße an Gudrun, dann verschwindet Michael hinter der Paßkontrolle.

„Meine Familie in Tyros bedeutet mir viel“, sagt Michael, als der libanesische Küstenstreifen nicht mehr zu sehen ist. Seine wirkliche Familie werde für ihn aber immer die seiner Adoptiveltern bleiben. „Hassan wird die meisten Probleme haben. Ich konnte mich zehn Jahre auf ein Treffen mit ihm vorbereiten, er dagegen wurde durch mein plötzliches Erscheinen ins kalte Wasser gestoßen.“

*Name geändert