Hinter einem Zipfel des Vorhangs

Der russische Revolutionär lebte im Exil in Wien und arbeitete als Journalist. Für eine sozialistische Zeitung in Kiew reiste er in den Balkan und sammelte Augenzeugenberichte über die grausamen Kriege von 1912 und 1913. Ein Bericht  ■ Von Leo Trotzki

Das folgende wurde mir (Trotzki, d. Red.) – fast wörtlich – von einem meiner serbischen Freunde erzählt.

„Ich hatte die Möglichkeit, noch während des Krieges einige Tage nach der Schlacht bei Kumanovo Skopje (Üsküb) zu besuchen. Im Zug dorthin traf ich auf einen Offizier [...], ein guter und ehrlicher Mensch, den ich schon lange kenne. Doch kaum hatte er erfahren, daß ich nach Skopje fuhr und daß ich eine Erlaubnis dazu hatte, als er mit unverhüllter Feindschaft erklärte, für jemanden, der in Skopje nichts zu tun habe, gebe es keinen Grund, dorthin zu fahren, und die Behörden in Belgrad wüßten wohl nicht, was sie anrichteten, wenn sie ,Unbefugte‘ nach Skopje ließen. In Vranje, an der serbischen Grenze [...] änderte er seinen Tonfall und begann mich weit ausholend auf die Eindrücke vorzubereiten, die ich in Skopje erhalten würde. ,Das sind alles sehr unangenehme Dinge, aber leider sind sie unvermeidlich.‘ [...]

*

Das Grauen begann, sobald wir die alte serbische Grenze überschritten hatten. Gegen fünf Uhr abends näherten wir uns Kumanovo. Die Sonne war verschwunden, und es begann dunkel zu werden. Aber je dunkler der Himmel wurde, desto heller hob sich die furchtbare Illuminierung durch die Feuer gegen ihn ab. Es brannte überall ringsum. Ganze albanische Dörfer hatten sich in Feuersäulen verwandelt – in der Ferne, in der Nähe, sogar direkt am Eisenbahndamm. Das war das erste reale, authentische Bild, das ich vom Krieg sah, von diesem unbarmherzigen gegenseitigen Ausrotten der Menschen. Es brannten die Wohnstätten, es brannte das Hab und Gut, das von den Vätern, Großvätern und Urgroßvätern angesammelt worden war. In seiner flammenden Monotonie wiederholte sich das Bild den ganzen Weg über bis Skopje.

Dort kamen wir gegen zehn Uhr abends an. Ich kletterte aus dem Viehwaggon, in dem ich die Reise unternommen hatte. Die ganze Stadt war schon verstummt – keine lebende Seele mehr auf der Straße. Nur unmittelbar vor dem Bahnhof stand eine Gruppe Soldaten, aus der man eine betrunkene Stimme vernahm. Alle, die mit dem Zug angekommen waren, hatten sich schon von dannen begeben, und ich war allein am Bahnhof zurückgeblieben. Ich ging auf die Gruppe zu. Vier Soldaten hielten ihre Bajonette in Bereitschaft, und in der Mitte der Gruppe standen zwei noch ganz junge Albaner mit ihren weißen Mützchen auf dem Kopf. Ein betrunkener Unteroffizier – ein Komitadshe (ein Četnik) – hielt in der einen Hand eine Kama (einen mazedonischen Dolch) und in der anderen eine Flasche Kognak. Der Unteroffizier gab Befehle. ,Nieder!‘ Die Albaner, halbtot vor Angst, fielen auf die Knie. ,Auf!‘ Sie standen auf. Das wiederholte sich einige Male. Dann setzte der Unteroffizier unter Drohungen und Beschimpfungen die Spitze seiner Kama an den Hals und auf die Brust seiner Opfer, dann zwang er sie von dem Kognak zu trinken, und dann ... küßte er sie. Berauscht von der Macht, vom Kognak und vom Blut, amüsierte er sich nun, spielte mit ihnen, genauso wie ein böser, niederträchtiger Kater mit Mäusen. Das gleiche Gebaren und die gleiche Psychologie. Die anderen drei Soldaten, die nicht betrunken waren, standen streng da und paßten auf, daß die Albaner nicht flohen oder Widerstand leisteten und daß der Unteroffizier sein Vergnügen voll auskosten konnte. ,Das sind Arnauten‘, sagte ein Soldat sachlich zu mir. ,Gleich wird er sie abschlachten...‘

Mit Grauen lief ich von dieser Truppe weg. [...] In der Stadt war alles ruhig, wie ausgestorben. Um sechs Uhr abends schloß man immer alle Tore und Eingangstüren. Doch mit Einbruch der Nacht begannen die Komitadshi ihre Arbeit. Sie drangen in türkische und arnautische Häuser ein und taten dort immer das gleiche: Sie stahlen und töteten. Skopje hat 60.000 Einwohner, davon sind die Hälfte Albaner und Türken. Ein Teil von ihnen ist zwar geflohen, aber die überwiegende Mehrheit ist noch da. Und diese müssen nun das nächtliche Blutbad über sich ergehen lassen.

Zwei Tage vor meiner Ankunft erblickten die Einwohner am Morgen unter der Hauptbrücke über den Vardar, also direkt im Stadtzentrum, Berge von albanischen Leichen, denen die Köpfe abgetrennt waren. Die einen sagen, das seien hiesige Albaner gewesen, die von den Komitadshi getötet wurden; die anderen sagen, die Leichen seien von den Fluten des Vardars angespült worden. Auf jeden Fall waren die Leute mit den abgetrennten Köpfen nicht im Gefecht getötet worden...

Skopje ist ein einziges Militärlager. Die Einwohner und besonders die Mohammedaner verstecken sich; auf den Straßen sind nur Soldaten zu sehen. Unter der Masse von Soldaten kann man serbische Bauern ausmachen, die aus allen Teilen Serbiens hierher gekommen sind. Unter dem Vorwand, sie würden ihre Söhne und Brüder suchen, laufen sie über das Kosovo polje und – plündern. Ich habe mich mit drei von diesen Marodeuren unterhalten. Sie waren aus der Šumadija, dem Zentralteil von Serbien, zu Fuß über das Kosovo polje gekommen. Der jüngste von ihnen, ein kleiner Mann vom Typ eines Draufgängers, brüstete sich damit, daß er auf dem Kosovo polje zwei Arnauten mit einem Schnellfeuergewehr erschossen habe. ,Es waren eigentlich vier dort, aber zwei konnten fliehen.‘ Seine Begleiter, ernste, ältere Bauern, bestätigten seine Erzählung. ,Eines ist allerdings schlecht‘, klagten sie, ,wir haben zu wenig Geld mitgenommen. Man kann sich hier viele Ochsen und Pferde verschaffen. Da zahlst du einem Soldaten zwei Dinar (75 Kopeken), und er zieht los ins nächstgelegene albanische Dorf und bringt dir ein gutes Pferd. Ein Paar Ochsen, und noch dazu gute, kann man sich über die Soldaten für 20 Dinar besorgen.‘ Aus der Umgebung von Vranje begibt sich die Bevölkerung massenhaft in die albanischen Dörfer und nimmt dort alles mit, was ins Auge fällt. Die Bauernweiber tragen auf ihren Schultern sogar die Türen und Fenster der albanischen Häuser davon. [...]

Drei Soldaten gehen an mir vorbei. Ich höre ihr Gespräch. ,Ich habe Unmengen von Albanern getötet‘, sagt der eine, ,aber bei keinem einzigen habe ich auch nur einen Groschen gefunden. Doch als ich dann eine Bula (ein junges türkisches Bauernweib) abgeschlachtet hatte, fand ich bei ihr zehn Goldlire.‘

Und über all das wird hier ganz offen, ruhig und gleichmütig gesprochen. Es ist etwas Alltägliches. Die Leute merken selbst nicht, was für eine riesige innere Veränderung die wenigen Kriegstage in ihnen hervorgerufen haben. Wie sehr doch der Mensch von den Umständen abhängt! In einer Atmosphäre organisierter Brutalität des Krieges werden die Menschen bald selbst brutal, ohne sich dessen bewußt zu sein. [...]

Am Abend begegne ich im Hotel einem Korporal, den ich kenne. [...] ,Und was machen Sie jetzt in Ferizović‘, frage ich, ,unter den Albanern?‘ ,Wir braten Hühner und schlachten Arnauten. Aber das haben wir schon über‘, fügt er mit einem Gähnen hinzu und begleitet seine Worte mit einer Geste von Müdigkeit und Gleichgültigkeit. ,Aber es gibt unter ihnen sehr reiche Leute. In der Nähe von Ferizović kamen wir in ein Dorf, ein reiches Dorf, mit Häusern wie Burgen. Wir gingen in so ein Haus. Der Besitzer war ein reicher, alter Mann, und er hatte drei Söhne bei sich. Es waren also vier, aber Frauen hatten sie viele, sehr viele. Wir führten sie alle aus dem Haus heraus, stellten die Weiber in einer Reihe auf und schlachteten die Männer vor ihren Augen ab. [...] Dann steckten wir das ganze Anwesen in Brand.‘

,Aber hören Sie, wie konnten Sie sich nur so bestialisch aufführen?‘, frage ich schockiert. ,Da kann man nichts machen, man gewöhnt sich dran. Manchmal war mir allerdings auch unbehaglich zumute, wenn ich zum Beispiel einen alten Mann oder einen unschuldigen kleinen Jungen töten sollte; aber es sind Kriegszeiten, und Sie wissen ja selbst: Die Vorgesetzten befehlen, und Sie haben diese Befehle auszuführen. Es ist so manches passiert in dieser Zeit. Als wir das Geschütz nach Skopje schleppten, begegneten wir unterwegs einem Wagen, auf dem vier Bauern lagen, die bis zum Gürtel zugedeckt waren. Ich spürte sofort den Geruch von Jodoform. Eine verdächtige Angelegenheit. Ich hielt den Wagen an und fragte, wer sie waren und wohin sie wollten. Die schwiegen und taten, als würden sie kein Serbisch verstehen. Aber sie hatten einen Kutscher dabei, einen Zigeuner, und der erklärte: Alle vier seien Albaner, hätten an der Schlacht bei Merdar teilgenommen, seien an den Beinen verwundet worden und führen jetzt nach Hause. Damit war alles klar. Kommt runter, sagte ich. Sie begriffen, was das hieß, sträubten sich und wollten nicht absteigen. Was sollte ich da machen? Ich setzte mein Bajonett an und machte alle vier fertig, oben auf dem Wagen...‘

Und diesen Menschen kannte ich nun. Er war Kellner gewesen in Kragujevac. Ein junger Bursche, ohne besondere Eigenschaften, absolut keine Kämpfernatur, ein Kellner eben, wie es überall viele gibt. Eine Zeitlang war er in der Kellner-Gewerkschaft, war wohl sogar für kurze Zeit Sekretär, aber dann legte er das Amt nieder... Und nun kann man sehen, was zwei oder drei Wochen Krieg aus ihm gemacht haben.

,Aus Leuten wie Ihnen sind doch richtige Banditen geworden! Sie töten und stehlen alles ohne Unterschied!‘, rief ich aus und wich, von körperlichem Ekel gepackt, vor meinem Gesprächspartner zurück. Der Korporal wurde verlegen. [...] Und dann sprach er, voller Überzeugung und gewichtig einen Satz aus, der ein noch schlechteres Licht auf alles warf, was ich gesehen und gehört hatte.

,Aber nein! Wir, die regulären Streitkräfte, wahren unsere Grenzen und töten niemanden unter zwölf Jahren. Über die Komitadshi kann ich wahrscheinlich nichts Genaues sagen, bei denen ist es etwas anderes. Aber für die Armee verbürge ich mich.‘ [...]

Nicht weit von Kumanovo entfernt, auf einer Wiese neben den Gleisen, hoben Soldaten riesige Gruben aus. Ich fragte, wofür. Man antwortete, für das verfaulte Fleisch, das hier in 15 oder 20 Waggons auf dem Abstellgleis stand. Die Soldaten erschienen nicht, um sich ihre Fleischration abzuholen. Alles, was sie brauchten und noch mehr, nahmen sie sich aus den albanischen Häusern: Milch, Käse, Honig. [...] Die Soldaten schlachten jeden Tag Ochsen, Schafe, Schweine und Hühner, was sie schaffen, essen sie, den Rest werfen sie weg. ,Fleisch brauchen wir überhaupt nicht‘, sagte mir ein Proviantverwalter, ,was wir brauchen, ist Brot. Wir haben hundertmal nach Belgrad geschrieben, sie sollen uns kein Fleisch schicken, aber dort geht alles nach Schema F.‘“

*

Und so sieht das nun alles aus der Nähe betrachtet aus: Es fault das Fleisch, sowohl das von Menschen als auch das von Ochsen; Dörfer haben sich in Feuersäulen verwandelt; Menschen, „nicht unter zwölf Jahre“ alt, rotten sich gegenseitig aus; alle werden brutal und verlieren ihre menschlichen Eigenschaften. Wenn man auch nur ein Zipfelchen des Vorhangs über den Taten militärischen Heldenmuts anhebt, entpuppt sich der Krieg in erster Linie als eine abscheuliche Sache.

Bericht in „Kiewskaja Mysl“, Nr. 355,

23. Dezember 1912 (gekürzt)