■ In den USA versuchen Rechte und Linke, die Kinder zu vereinnahmen. Denn Kinder symbolisieren Unschuld.
: Die Ersetzung der Politik durch Moral

Kinder küssen ist eine der beliebtesten und einfachsten Übungen im Wahlkampf. Beliebt, weil die niedliche Unschuld der Kleinen den Küsser in sympathisches Licht setzt. Einfach, weil die Abgeküßten sich nicht wehren können. Der TV-gerechte Politikerschmatz auf die Wangen von Krabbel- und Schulkindern ist in den USA zu einer erdrückenden Umarmung geworden. Kaum ein Thema, bei dem nicht die Rettung der Kinder Amerikas auf dem Spiel steht. Die Republikaner wollen den Haushalt ausgleichen, um „unsere Kinder und Enkel von der Schuldenlast zu befreien“. Bill Clinton will das inzwischen auch, „aber nicht auf Kosten der Kinder“. Die christliche Rechte will das Schulgebet einführen, um Kinder gegen die Widrigkeiten der säkularen Welt zu wappnen; Newt Gingrich und Co. planen die Abschaffung der Bundessozialhilfe, „damit Kinder nicht länger in einer Kultur der Abhängigkeit aufwachsen“. Worauf ein paar Kinderschutz-Aktivisten aus dem links-liberalen Spektrum empört die Bibel aufschlagen und einen neuen „Herodes“ durchs Land reiten sehen, der „unsere Kinder vernichtet“.

Hillary Clinton wiederum, in den letzten Jahren alles andere als eine Integrationsfigur, versucht sich als Konsensstifterin zwischen Linken und Rechten. Sie wünscht sich eine neue „nationale Wertegemeinschaft“ mit Dorfcharakter „zum Wohle der Kinder“ – zusammengerührt aus Familie, Kirche, Privatwirtschaft, Internet und ein bißchen Staat. Nachzulesen in ihrem jüngst erschienen Buch „It Takes A Village“, das sich wochenlang in den Bestsellerliste der New York Times hielt.

Nun ist jede kinderfreundliche Politik zu begrüßen – gerade in den USA, wo ein Fünftel aller Minderjährigen in Armut aufwachsen, 34 Prozent aller männlichen Teenager schon einmal mit einer Schußwaffe in die Schule gegangen sind und sich die Mord- und Selbstmordrate unter Jugendlichen in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt hat.

Bloß geht es hier längst nicht mehr um Politik, sondern um deren Substituierung durch Moral. In Zeiten, in denen Armut und Kriminalität zunehmend als Folgen von Werteverfall und Charakterschwäche angesehen werden, wird staatliche Hilfe immer weniger von Bedürftigkeit und immer mehr von „Schuld“ abhängig gemacht. Kinder bleiben am Ende die einzigen, die qua definitionem noch Anspruch auf staatliche Hilfe haben, weil sie an ihren Lebensumständen „unschuldig“ sind. Im Streit um den Sozialstaat werden sie so zur Metapher: Die Neue Rechte reduziert den Ausweis moralischer Unschuld auf Kinder, um den Abbau staatlicher Programme für deren Eltern, vor allem alleinerziehende Mütter, zu rechtfertigen; dem linken Flügel der Demokraten von Ted Kennedy bis Jesse Jackson bleibt nur noch das Stigma der Kinderfeindlichkeit gegen die Republikaner, um von Sozialprogrammen zu retten, was noch zu retten ist. Für das eigentliche Problem – die unbestrittene Reformbedürftigkeit der Sozialpolitik – bleibt da kein Platz.

Bill Clinton neigt, wie so oft, mal der einen, mal der anderen Seite zu – hin- und hergerissen zwischen seiner Faszination für die Rolle des „neuen Mitte-Rechts-Demokraten“ und seinem christlich-sozial begründeten Glauben an die Verantwortung des Staates. Aus diesen Stimmungswechseln ein brauchbares Image zu formen, hat seinen Beraterstab einigen Schweiß gekostet. Am Ende war es ausgerechnet die amerikanische Feministin Naomi Wolf, die dem Präsidenten empfahl, als „übergreifende präventive Metapher“ die Rolle des „guten Vaters“ zu übernehmen. Was das mit Feminismus zu tun hat, wird auf ewig Wolfs Geheimnis bleiben. Clinton jedenfalls spielt seitdem den „guten autoritären Vater“ – zum Schrecken all jener, die die Sphären von Familie und Politik gerne getrennt halten möchten. Da war zuerst sein Auftritt als „schützender“ Patriarch, als er vor wenigen Wochen ein Gesetz unterzeichnete, das aus der Haft entlassene Sexualstraftäter zwingt, sich an ihrem neuen Wohnort ihren Nachbarn mit Namen und Vorstrafenregister bekanntzumachen – zum Schutz der Kinder und ohne die geringste Achtung für die Einwände von Bürgerrechtlern. Letzte Woche empfahl der Baby-Boomer, Vietnamkriegsgegner und verhinderte Marihuanakiffer vor einer schwarzen Baptistengemeinde, Jugendliche nach Einbruch der Dunkelheit mit einer Ausgangssperre zu belegen – eine Praxis, die mittlerweile über hundert amerikanische Großstädte eingeführt haben. Dem ging der radikale Abbau öffentlicher Infrastruktur gerade im Jugendbereich voraus – bis man Teenagern tatsächlich nur noch abendlichen Hausarrest anbieten kann.

Ausgangssperren werden mindestens so sehr aus Angst um die Kinder wie aus Angst vor ihnen verhängt. Dem Klischee des wehrlosen und allseits bedrohten Nachwuchses steht die Dämonisierung von kriminell gewordenen Kindern und Jugendlichen gegenüber – als müßte man sie zusätzlich dafür bestrafen, die Erwachsenenwelt mit der „Unschuldsfassade“ ihrer Kindergesichter getäuscht zu haben. In Kalifornien sitzen Jugendliche für die gleichen Delikte durchschnittlich ein Jahr länger im Gefängnis als Erwachsene. Ein Gericht in Chicago hat unlängst einen Zwölfjährigen wegen Mordes in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt. Die Gewaltkriminalität unter Teenagern steigt, so wandert im amerikanischen Jugendstrafrecht ein Reformprinzip nach dem anderen in den Papierkorb. Weder vom „guten Vater“ noch von der „guten Mutter“ im Weißen Haus hört man dagegen Proteste. Statt dessen hagelt es erzieherische Ratschläge: Kinder sollen Schuluniformen tragen und sich von Gewalt und Sex im Fernsehen fernhalten, fordert Bill. Kinder sollen sich gesund ernähren, in Kirchen nach sozialem Zusammenhalt und spiritueller Führung suchen und Sex am besten erst ab 21 ausprobieren, fordert Hillary.

Wie sinnvoll diese Ratschläge sind, mögen die geneigten LeserInnen selbst entscheiden. Allerdings: Wie viele Nahrungsmittel und Fernsehshows der Nachwuchs konsumiert, ist Familien-, keine Staatsangelegenheit. Erziehungstips von der Präsidentenkanzel herab sind keine Lösung für Probleme wie Jugendarmut und -gewalt; und Hillarys Traum vom „nationalen Dorf“, in dem alle im Geiste des Kommunitarismus und der christlichen Nächstenliebe zum Wohle der Jugend agieren, ist kein Ersatz für staatliche Politik. Am meisten wäre den Kindern mit einem Präsidentenpaar gedient, das diesen Unterschied begreift. Andrea Böhm, Washington