Sezieren der Sehnsüchte

■ Kein Hollywood en miniature: Die mexikanischen Filmtage im 3001 betonen Cine Chicano und den Kulturenwechsel der 90er

Es ist eines der ältesten und produktivsten Filmländer der ibero-amerikanischen Welt, und doch führt es ein Leben in der Belanglosigkeit. Mexiko gilt allenfalls als Synonym für schießwütige Herz-und-Schmerz-Romanzen, als ein „Hollywood en miniature“, das im Roulette um die Publikumsgunst alles auf den Kommerz und nichts auf die Kunst setzt.

Doch Bilder sind da, um hinterfragt zu werden – wozu die mexikanischen Filmtage im Kino 3001 reichlich Gelegenheit bieten. 20 Filme werden hier bis zum 19. Juni präsentiert, das Gros sind Produktionen aus den 90er Jahren, die nun endlich ihre Hamburg-Premiere feiern. Und wer auch nur eine laue Nacht beim Festival verbringt, wird sehen: Das junge mexikanische Kino ist längst aus dem Schatten des Mainstreams getreten. Es hat seine eigenen Strategien und Geschichten entwickelt, um einen Reflex auf die Gegenwart des Landes zu werfen.

Daß schmerzhafte Grenzgänge dabei zum Alltag gehören, zeigt Maria Novaros elegant montierter Garten Eden (1994), der die Filmtage heute abend nach den klassischen Latino-Rhythmen der Bohemia Cha eröffnen wird, und manchmal wie eine leise, fast scheue Variation zu Altmans Short Cuts klingt. Schauplatz ist die mexikanisch-amerikanische Grenze bei Tijuana, die sich wie ein Messer in die Landschaft schneidet, um anschließend alle Sehnsüchte und Träume der Anwohner zu sezieren. Elizabeth, eine in den USA geborene Mexikanerin, sucht hier ihre kulturellen Wurzeln, Jane forscht nach der Unmittelbarkeit des Lebens, derweil Felipe die Gegenbewegung wagt. Sie alle suchen nach dem verlorenen Paradies, nach dem Garten Eden – doch das Geflecht der Beziehungen wird immer komplexer, die Utopien scheinen in die Ferne zu entgleiten. Sicher ist am Ende nur eins: Das Leben zwischen den Kulturen hat seinen Preis.

Auch Gregory Nava läßt seinen jüngsten Film My Family (1995) um die mexikanischen Grenzgänger und Migranten, die „Chicanos“, kreisen. Dabei hat er einen Poeten ins Rampenlicht gerückt, der mit Mut zur Nostalgie und viel Humor die turbulente Geschichte seiner Familie erzählt, die teils in Los Angeles zuhause war, als es noch zu Mexiko gehörte und die mit den immer gleichen Sorgen ringt: mit der Bewältigung des Alltags und der Armut.

Doch was wäre ein Lateinamerikanisches Filmfest ohne historische Highlights? Wie im letzten Jahr haben die Veranstalter auch diesmal einige Meilensteine aus den Archiven gelockt, die sehr wohl die Tradition eines politischen Kinos in Mexiko belegen. So hat Paul Leduc mit seinem kom-plex strukturierten Revolutionsdrama Reed – Mexico Insurgente (1971) erstmals die Sprengkraft sozialer Diskrepanzen markiert, während Robert Youngs Alambrista! (1978) den Weg für das „Cine Chicano“ ebnete. Noch heute findet der Film seinen Nachhall in aktuellen Produktionen.

Last but not least: Maria Novaro wird ab morgen in Hamburg erwartet, um die Retrospektive zu begleiten, die ihr als wichtigster Vertreterin des jungen mexikanischen Films gewidmet ist. Mit ihrem wunderbaren Debut Lola (1989) begeisterte sie einst das Publikum auf dem Mannheimer Filmfest, kurz darauf machte sie in Cannes mit dem Tanzfilm Danzón (1991) Furore. Und am Sonntag wird sie im Workshop über ihre Arbeit und das „Cine Chicano“ reden. Auch das ist Kino! Silke Kirsch Eröffnung mit Der Garten Eden: Do, 6. Juni, 20 Uhr, 3001