Unschuldiger Phantasiefluß

■ Robert Wilson und Lou Reed beschließen mit Time Rocker die Thalia-Musical-Trilogie / Stefan Kurt und Annette Paulmann dürfen zeitreisen

Mit buddhistischer Gelassenheit sitzt Lou Reed im Mittelrangfoyer des Thalia und beantwortet mit dem Hauch eines verschmitzten Lächelns selbst die allerdämlichsten Fragen von Journalisten, die man vorher noch nie im Theater gesehen hat. Robert Wilson, der eigentliche Anführer dieser Produktion, muß sich da schon die Rolle einer Nebenfigur gefallen lassen. Vermutlich kennen viele der Fragenden ihn überhaupt nicht.

Anlaß dieses merkwürdigen Zusammenpralls von Boulevard und Hochkultur ist die dritte „Musical“-Produktion des Thalia mit Robert Wilson, Time Rocker. Nach Black Rider und Alice, wo Wilson mit Tom Waits zusammenarbeitete, wird mit Lou Reed erneut der ganz große Starglimmer ans Alstertor geholt. Von Reed ausgesuchte Musiker werden in der klassischen Rockbesetzung Gitarre, Baß, Schlagzeug klassische Rockmusik spielen. Sowohl die 16 Songs wie die Szenenmusik hat Reed geschrieben, die Textarbeit hat er sich geteilt. „Die Songtexte sind von mir“, insistiert Reed in gespielter Ungehaltenheit, als Jürgen Flimm ihm nur die Lieder zuschreibt. Das Libretto – was immer dann noch Libretto ist – stammt vom Schriftsteller Darryl Pinckney.

Wilson, dessen Beschäftigung mit dem Faktor Zeit auf dem Theater ihn irgendwann zwangsläufig dazu führen mußte, eine richtige Zeitreise zu inszenieren, hat das Gesamtkonzept in Workshops mit den Beteiligten ausgearbeitet – neben Reed noch die Kostümbildnerin Frida Parmeggiani und der Dramaturg Wolfgang Wiens, die auch an den beiden vorherigen Produktionen mitgearbeitet haben. Auch Songs und Texte entstanden während der Sitzungen in New York und Hamburg oder in der Probenarbeit mit dem Ensemble und den bekannten Wilson-Protagonisten Annette Paulmann und Stefan Kurt.

Die Geschichte, die diesmal nicht direkt auf eine literarische Vorlage zurück geht, sondern nur entfernt von H.G. Wells Die Zeitmaschine inspiriert wurde, ist ein so unschuldiger Phantasiefluß, daß am Ende alles herauskommen kann: ein Jahrhunderterfolg wie Black Rider oder eine durchschnittliche Stadttheaterangelegenheit wie Alice. Nick und Priscilla, Assistent und Hausdame bei einem wunderlichen Professor, werden des Mordes beschuldigt, weil ihr Chef (Hans Kremer) verschwunden ist. Auf einer Zeitreise in einem Fisch durchwandern sie die Jahrtausende und finden überall seine Spuren. Schließlich aber, nachdem sie auf allen Kontinenten in vielen Zeiten höchst Seltsames erlebt haben, verlieren sie sich in der Zeit.

China, Griechenland, USA, die vorkommenden Länder haben auch Frieda Parmeggianis Kostümarbeit befruchtet. Und Robert Wilsons bekannte Handschrift der abstrakten Strukturen, der unpersönlichen Erzählweise und der Konzentration auf eine Art spirituellen Nachhall des Geschehens wird dieser „Oper“ im Widerstreit zu Reeds knarziger Gefühlswelt den Produktstempel verpassen. Ein Erfolg wird es immer, auf ein großes Erlebnis darf man hoffen. Till Briegleb

Premiere: Mittwoch, 12. Juni, 20 Uhr, Thalia Theater