Mit den Augen der Sinti

■ betr.: „Geschichte für eine pan- zigeunerische Identität“, taz vom 28. 5. 96

Unter dem Titel steht ein Foto gedruckt: Zwei Sinti-Frauen vor ihren Wohnwagen, Roßlau 1931. Die Unterschrift verschweigt, wer die Frauen sind und wer der Fotograf. Dadurch klammert der Text dieses Bild gleichsam aus dem Thema aus. Deshalb sei ergänzt, was das Foto über die Geschichte der Sinti und Roma verrät. Links im Bild steht Erna Lauenburger, genannt Unku, in der Mitte eine ihrer Cousinen; beide sehen einander zum Verwechseln ähnlich.

Zwölf Jahre darauf, am 2. Juli 1943, ist Unku im „Zigeunerlager“ des KZ Auschwitz-Birkenau ermordet worden. Keine andere deutsche Sintiza, die dem Völkermord zum Opfer fiel, ist so bekannt geworden wie sie. Denn Unku ist die Titelgestalt des Kinderbuches „Ede und Unku“, das die Schriftstellerin Grete Weiskopf 1931 im Malik-Verlag unter ihrem Pseudonym Alex Wedding veröffentlicht hat. Dieser „Roman für Kinder“ spielt in einem Berliner Arbeitermilieu und erzählt von der Freundschaft zwischen dem Arbeiterjungen Ede und dem Sinti-Mädchen Unku. Die Handlung ist nicht frei erfunden, die Personen sind authentisch. Die Fotos zum Buch stammen von John Heartfield, dem Bruder des Verlagsleiters Wieland Herzfelde.

Wer in der DDR zur Schule gegangen ist, kennt „Ede und Unku“. Das Buch war Pflichtlektüre im Deutschunterricht der 5. Klasse. Es ist in 20 Auflagen erschienen, die zusammen nahezu eine Million Exemplare zählen. Unter dem Titel „Als Unku Edes Freundin war“ ist Alex Weddings Buch 1980 von der DEFA verfilmt worden. Regisseur war Helmut Dziuba, Drehbuchautor Hans-Albert Pederzani.

Den Namen Hanns Weltzel habe ich zum ersten Mal gehört, als Kurt Ansin, ein Sintu aus Berlin und Auschwitz-Überlebender, ihn erwähnte. Ich hatte zwei Artikel von Hanns Weltzel gelesen, die er 1938 und 1939 im Journal of the Gypsy Lore Society veröffentlicht hat. Weltzel gibt darin viele Interna über die Sinti Mitteldeutschlands preis, über ihre Sitten, ihre Familienverbindungen, ihre Verwandtschaft, ihre Rechtsprecher, ihre Tätigkeiten. Als ich das Kurt Ansin sagte, war er zornig und verbittert. „Er hat mit uns gegessen“, empörte er sich, und das will meinen: Weltzel hat sich unser Vertrauen erschlichen, wir haben ihn als Freund angesehen, aber er hat unsere Angelegenheiten den Rassenforschern verraten. Kurt Ansin, mit Unku nahe verwandt, hat in Auschwitz nahezu seine ganze Familie verloren, und von den elf Sinti, die Alex Wedding in „Ede und Unku“ namentlich nennt, überlebte nur Kaula – Kurt Ansins Frau.

Wieder und wieder wird behauptet, keiner, der sich in der Nazizeit mitschuldig gemacht habe an der rassischen Verfolgung der „Zigeuner“, sei bestraft worden. Aber das gilt nur für die alte Bundesrepublik, nicht für die DDR! Schon kurz vor Kriegsende setzten sich alle, die am Völkermord an Roma und Sinti beteiligt waren, in den Westen ab – Zigeunerforscher, Mediziner, Kriminalisten, KZ- Kommandanten, SS-Mannschaften, alle. Die Justiz der Bundesrepublik hat diesen Verbrechern kein Haar gekrümmt. Hanns Weltzel, als einziger, blieb in der „Ostzone“. So erreichte ihn die Strafe. Schuldig gemacht hat er sich, weil er sein Wissen über die Sinti und Roma Deutschlands – diejenigen der „Ostmark“ eingeschlossen – der von Dr. Robert Ritter geleiteten „Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ preisgegeben hat. Diese rassistische Institution erfaßte im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes die Sinti und Roma das Hitlerstaates mit dem Ziel, sie „aus dem deutschen Volkskörper auszumerzen“.

Auf dem Foto die Sintiza Unku; der fotografierende Tsiganologe mitschuldig an ihrem Tod. Wer den historischen Hintergrund kennt, vermag das Bild mit den Augen der Sinti zu sehen. Reimar Gilsenbach,

Schriftsteller

Autor u.a. von „O Django, sing deinen Zorn! Sinti und Roma unter den Deutschen.“, Berlin: Basis Druck, 1993, 316 Seiten, 29,80 DM