Fanatismus, Frust und Apathie

Für die Studenten im sibirischen Nowosibirsk ist die russische Präsidentschaftswahl das kleinere Problem. Sie kämpfen jeden Tag ums Überleben  ■ Aus Nowosibirsk Jens Breder

Nowosibirsk (taz) – Der überfüllte Bus holpert langsam stadtauswärts, quält sich vorbei an zehnstöckigen Betonklötzen und schäbigen Kiosken. „Schirinowski ist unser Mann“, hat irgendwer mit Kreide an die Mauer der Nowosibirsker Maschinenfabrik gekritzelt. 50 Meter weiter flattert an einer Straßenlampe ein einsames Flugblatt, das den Besuch des LDPR-Rechtsaußen ankündigt. Die Wäsche auf den Balkonen und die riesige Zigarettenwerbung, die das „Rendezvous mit Amerika“ beschwört, sind die einzigen Farbtupfer.

In knapp zwei Wochen wird in Rußland ein neuer Präsident gewählt. Doch in der sibirischen 1,7-Millionen-Einwohner-Metropole Nowosibirsk, östlich des Ural, ist vom Wahlkampf bislang wenig zu spüren. Die Menschen hier haben andere Sorgen. Wie der 18jährige Aljoscha, Geschichtsstudent im ersten Jahr an der Staatlichen Universität Nowosibirsk (NGU).

Kein Präsident der Welt wird ihm die 1.500 Rubel ersetzen, die ihm die Kontrolleurin für die Busfahrt vom Stadtzentrum zurück nach Haus in den rund 40 Kilometer entfernten Lehr- und Forschungsstadtteil Akademgorodok abgeknöpft hat. Dorthin, wo es für die rund 4.000 StudentInnen nur ein Kino und ein Kulturzentrum gibt.

Seit April, als in Nowosibirsk der Preis für eine Fahrkarte um durchschnittlich 40 Prozent angehoben wurde, machen die KontrolleurInnen verstärkt Jagd auf Schwarzfahrer. Schon auf der Fahrt in die Stadt mußte Aljoscha zahlen. Und 3.000 Rubel, umgerechnet knapp eine Mark, sind viel Geld für einen, der monatlich ein Stipendium von 75.000 Rubel erhält. Und der für das Bett im Dreierzimmer des Wohnheims, ohne Küche, Dusche, dafür aber mit Kakerlaken und Dreck, 20.000 Rubel bezahlen muß.

3.000 Rubel, das sind ein Brot, ein Liter Milch oder eineinhalb Kilo Kartoffeln. 3.000 Rubel sind mehr, als der Staat einem Studienanfänger pro Tag zur Verfügung stellt. Ohne seine Eltern, die ihm erst heute wieder ein paar Tausender zugesteckt haben, könnte Aljoscha nicht überleben. Doch auch sie haben es schwer. Der Vater, Fabrikarbeiter, bringt monatlich rund 70.000 Rubel (etwa 200 Mark) nach Hause, die Mutter, Verkäuferin, knapp 40.000 – den Gegenwert für die berühmte Markenjeans mit der Knopfleiste. „Da fragst du noch, wen ich wählen werde? Politik interessiert mich nicht, und ich werde auch nicht wählen gehen“, sagt Aljoscha.

Vielleicht, so befürchtet Jaroslaw (21), Aljoschas Nachbar im Wohnheim, gehört Aljoscha zu den letzten StudentInnen, die an der NGU ohne Rückendeckung reicher Eltern studieren können. „Vor vier Jahren, als ich mit dem Studium begonnen habe, reichte das staatliche Stipendium noch zum Leben. Das ist jetzt nicht mehr drin.“ Er hat noch Glück. Nicht nur, daß ihm als Student im 4. Jahr ein Einzelzimmer und damit der Luxus von acht Quadratmetern mit Bett, Tisch, Stuhl und Herdplatte zusteht. Er kann seine Pflichtseminare auch an zwei Tagen in der Woche abwickeln und in der freien Zeit ein paar Rubel mit Übersetzungen dazuverdienen. Andere StudentInnen seines Jahrganges jobben als NachhilfelehrerInnen, schreiben für Zeitungen oder verkaufen im Kiosk. „Studienanfänger haben aber rund 30 Wochenstunden und Kurse an sechs Tagen pro Woche. Sie haben keine Zeit für Nebenjobs und sind auf ihre Eltern angewiesen“, sagt Jaroslaw.

Leonid Panin, Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät an der NGU, beobachtet eine „wachsende Anfälligkeit für fanatische Ideen unter den Studienanfängern. Wie aber auch, so fragt er sich, sollen sie, inmitten von wirtschaftlichem Chaos und allgemeiner Armut, demokratisches Bewußtsein entwickeln? Schließlich haben sie nicht nur mit großen finanziellen Problemen zu kämpfen – auch das Studium an der NGU ist schwieriger geworden.

Der Hochschule wie auch der Technischen Universität im Stadtzentrum fehlt das Geld, den Studierenden Zugang zu moderner Computertechnologie und aktueller Forschungsliteratur zu ermöglichen. Es fehlt an allem. Ein Germanistikdozent von einer norddeutschen Partneruniversität, der ein Seminar über Fontanes „Effi Briest“ anbietet, sieht sich vor ein schier unlösbares Problem gestellt. In der Bibliothek ist nur ein Exemplar des Klassikers vorhanden.

Nicht nur den ProfessorInnen fällt es „immer schwerer, die Jugendlichen zu verstehen“ – Jaroslaw wie auch der Mathematikstudent Boris (24) sehen einen „absoluten Bruch“ zwischen ihrer Generation und der des 18jährigen Aljoscha. „Die Jüngeren“, so Boris, „sprechen eine andere Sprache. Dieser Pessimismus und dieses Desinteresse an Politik – die wissen eben nicht, was es bedeutet, mit den Komsomolzen marschieren zu müssen. Sie sehen nur das wirtschaftliche Chaos, nicht aber die neuen Freiheiten, die die Demokratie gebracht hat.“ Boris will wählen gehen und für Jelzin stimmen. „Ich weiß zwar, daß Jelzin nur das kleinere Übel ist, aber er garantiert mir immerhin, daß ich in meiner Dissertation nicht Lenin zitieren muß.“

Jaroslaw hingegen will Gennadi Sjuganow, den Chef der Kommunisten, wählen. Dieses Gefühl, sich „wie ein Einzelkämpfer durch den Dschungel“ schlagen zu müssen, hat ihn zu der Überzeugung gebracht, daß Rußland für die Demokratie ganz einfach noch nicht reif sei. Er hofft auf eine starke Führung, die auch ihm eine Perspektive bieten könnte.

Mehrfach ist Jaroslaw bereits bei Einstellungstests westlicher Firmen durchgefallen. Und das, obwohl er gut deutsch spricht und sich perfekt mit dem Computer auskennt. „Unter den Kommunisten müßten wir Studenten uns keine Sorgen um unsere Zukunft machen“, sagt er. „Wir wären die Elite. Doch heute wissen wir nicht einmal, ob wir morgen unsere Busfahrkarte bezahlen können.“