Visionen zu Veitstänzen?

Der Volksbühnenintendant Frank Castorf ging mal eben vier Straßen weiter und inszenierte im Berliner Ensemble Heiner Müllers „Auftrag“, ein Stück über Revolutionäre, die keine sein können, und andere letzte Fragen  ■ Von Petra Kohse

Wer im höheren Auftrag handelt, hat sich selbst nichts vorzuwerfen, wenn er scheitert. Was aber, wenn der Überbau plötzlich bröckelt, der Auftraggeber unbekannt verzieht? Dann ist der Beauftragte schnell wieder Mensch und allein zu Haus, und die alte Frage brennt wie eh und je: Was tun? Heiner Müller führt diesbezüglich in seinem 1979 verfaßten Stück „Der Auftrag“ drei grundsätzliche Verhaltensweisen vor: der Intellektuelle kippt mit dem System, der Bauer versteht die Welt nicht mehr, und einer hält am eingeschlagenen Wege fest. Der erste hatte den Auftrag aus Kalkül angenommen, der zweite irgendwie aus Treue, der dritte aus Notwendigkeit.

Jamaika, vor mehr als 200 Jahren: Debuisson, Galloudec und Sasportas sind aus Frankreich angekommen, um im Auftrag des Jakobiners Antoine einen Sklavenaufstand gegen die britische Herrschaft anzuzetteln. Es geht nicht schlecht voran, Debuisson führt das Wort, die anderen sind ganz Ohr. Indes, Frankreich ist weit, Debuisson im Herzen doch mehr Groß- als Bürger und Sasportas selbst ein Schwarzer. Es kommt, wie es eben kommt bei Revolutionären: Der eine jongliert mit den Prinzipien, dem anderen geht's ums Überleben.

Gewissermaßen ein Modellstück, aber zerklüftet, durchsetzt mit Prosastellen und natürlich voller Pathos: „Ich höre die Trommeln, bevor sie geschlagen werden. Ich höre mit den Poren, meine Haut ist schwarz“, sagt Sasportas, der weiterkämpft und in den Tod geht, als Napoleon in Frankreich alle Aufträge storniert. „Vom Standpunkt der Humanmedizin ist die Revolution eine Totgeburt“, sagt hingegen Debuisson, bevor er am Ende (auch noch selbstmitleidig jammernd) zum Verräter wird. Wem eben so die Stunde schlägt. Ein tragisches Stück darüber, daß Utopien relativ sind und einen am Ende doch jeweils die eigene Geschichte einholt. Und ein absurdes Stück, läßt Müller in einer eingefügten Traumerzählung doch keinen Zweifel daran, daß ein höherer Auftrag letztlich nie mehr ist als schreckliche, kindliche Projektion.

Insofern ist für einen wie Frank Castorf eigentlich nichts zu tun. Ein Text, der die Ideologie einerseits noch umkreist, andererseits aber bereits hinter sich gelassen hat, ist immer schon weiter, wenn man sich ihm mit aufklärerischer Verve nähern will.

Dennoch: Castorf hat sich aus der Volksbühne Silvia Rieger als Sasportas ins Berliner Ensemble mitgebracht, Hermann Beyer als Debuisson und Dieter Montag als Galloudec waren schon da, ebenso Axel Werner, Uwe Steinbruch und Marianne Hoppe. Hartmut Meyer hat eines seiner flächenkonzentrierten Bühnenbilder gebaut: Eine schräge Spielfläche vorne, hinten rechts treiben die Bühnenteile wie runde Eisschollen auseinander, ein übermütig schmal geschwungener Steg führt von links über den Abgrund ins Stück.

Wahlweise kann man aber auch vorn über bunte Kisten nach unten klettern. Und dabei noch was entdecken, denn wo ein Deckel ist, ist auch was drin. Etwa ein Stethoskop, mit dem Galloudec am eigenen Herzen horchen, sich aber auch strangulieren kann – einer der wenigen Schlenker, die an den Doppelsinn typischer Castorfiaden erinnern.

Ansonsten hat der Meister für diese Arbeit kaum einen Finger gekrümmt. Zwar trottet Axel Werner mit Blondhaarperücke als Antoines Frau oder mit Engelsflügeln als irgendwer traurig über die Bühne, zwar erscheint die Hoppe stimmächtig als Ex-Jakobiner und mit imponierend unzeitgemäßer Contenance als erste Liebe von Debuisson, zwar springt Uwe Steinbruch im passenden Moment, als sich die Zeiten in Frankreich wenden, plötzlich als Ost-Affe halbnackt aus einer Tonne, mault „Helmut“ und kriegt auch prompt eine Banane, aber all das führt weder hin zum Text noch hinter ihn, sondern pappt nur pflichtgemäß irritierend am Rande.

Es passiert hier nicht mehr, als daß Castorf gähnend auf Müllers Prototypen deutet und murmelt: „Lohnt nicht, lohnt nicht, lohnt nicht.“ Und während Beyer und Montag gewohnt souverän auch dafür zur Verfügung stehen, drängt Silvia Rieger als Sasportas im Alleingang nach vorn. Ihren Text über den Aufstand als Heimat der Unterdrückten stöhnt und gurrt sie, krächzt und kaut sie so konvulsivisch ausdruckswütig, als halte sie es eben doch noch für nötig, das Opfer in Revolutionärsrolle – Visionen zu Veitstänzen! – zu pathologisieren.

Eine denkbar unangemessene Anstrengung. Denn Castorf selbst arbeitete ja ganz ohne Verve, da es hier eben nichts aufzuklären gibt. Weswegen hat er den „Auftrag“ dann aber inszeniert? Wollte er einfach vier Straßen weg von zu Hause, mitten im Tempel mit Müller ein bißchen lustig sein, was dann nicht funktionierte? Hatte er schlicht einen Auftrag? Natürlich keinen höheren – wie auch?

Wieder heute, am 12. und 16. 6., 19.30 Uhr, Berliner Ensemble