"Ein riesiger bunter Zug durch Neukölln"

■ Urbanität zwischen Potential und Politik: Was ist Berliner Kultur? Luxus oder "Laboratorium Zukunft"? Ein Gespräch mit Harald Jähner (Haus der Kulturen der Welt) und Thomas Wohlfahrt (Literaturwerk

Der Berliner Rat für die Künste, ein Zusammenschluß von rund 150 Kulturinstitutionen, hat das letzte Jahr mit Lobbyarbeit verbracht. Er hat in Gesprächen mit Politikern dafür geworben, daß die 60 Millionen Mark, die der Bund für die Berliner Kultur zahlt, nicht als Entlastung des Berliner Kulturetats behandelt werden, sondern zusätzlich zur Verfügung stehen sollen. Das ist zumindest für 1996 nicht durchgesetzt worden. Im Gegenteil. Weitere Streichungen haben Einrichtungen wie das renommierte Institut für traditionelle Musik direkt vors Aus katapultiert. Die Lage wird immer deprimierender. Da versucht es der Rat für die Künste jetzt von einer anderen Seite. Er plädiert für eine Debatte über das, was Hauptstadtkultur eigentlich ist oder sein soll – und für ein neues Selbstbewußtsein, gerade gegenüber der Politik.

taz: Man hat seit Monaten nichts mehr vom Rat für die Künste gehört. Was machen Sie bei Ihren Montagssitzungen? Sich gemeinsam die Wunden lecken?

Harald Jähner: Wir stehen vor dem Problem, daß man die inhaltliche Debatte über die Berliner Kulturpolitik wieder neu entfachen muß. Es gab Ende letzten Jahres eine Hausse der Berliner Kulturdebatten, die im Grunde genommen auf die Person des zu findenden Kultursenators fixiert waren. Als der (mit Peter Radunski von der CDU, Anm. d. Red.) dann feststand, brachen diese Debatten von heute auf morgen ab. Die Debatten davor waren fixiert auf die Finanzierung der Berliner Kultur. Da muß jetzt eine neue Stufe betreten werden. Inhalte müssen wieder zur Diskussion stehen: Was ist Berliner Kultur?

1988 war West-Berlin Kulturstadt Europas. Danach hat man Stück für Stück an Identität verloren, weil man das Heil von außen erwartet hat: erst von Olympia, dann vom Umzug der Regierung. Die anhaltende, gewiß notwendige Spardebatte schafft aber zusätzliche Denkblockaden, die in der Stadt schrittweise einen immer größeren Mangel an Selbstvertrauen fabriziert und zum Zerfall der urbanen Struktur beiträgt.

Wie könnte man diese Debatte einleiten?

Jähner: Gewiß wird es dabei zunächst um Sparmöglichkeiten gehen. Aber auf längere Sicht muß man sich klarmachen, daß Kultur in Berlin eine Wachstumsbranche ist. Und zwar sowohl, was die Einnahmen betrifft als natürlich auch, was die konsumtiven Ausgaben angeht. Das ist ja gerade das, was im Augenblick tabuisiert wird. Kultur wird mehr Geld brauchen, weil die Leute mehr Kultur brauchen. Soviel Kultur wie jetzt haben sie noch nie konsumiert. Wir werden immer weniger neue Straßen brauchen, benötigen aber immer mehr Kultur...

Jetzt reden Sie gleich wieder über Kultur als „Standortfaktor“. Aber was ist Kultur in Berlin?

Jähner: Die Kennzeichen der Berliner Kultur sind die Vielfalt, die Lebendigkeit, das Provisorium und das Pubertäre. Berlin ist eine Stadt, die zum Glück nie selbstbewußt erwachsen geworden ist.

Mit Ausnahme von „pubertär“ steht das so auch in Reiseführern für Berlin drin. Dabei gibt es Leben und Vielfalt woanders auch.

Thomas Wohlfahrt: Es gibt keinen eindeutigen Selbstausdruck von Berlin. Allerdings läßt sich die Berliner Kulturlandschaft als „Laboratorium Zukunft“ verstehen. Gesellschaftliche Konflikte werden zuerst hier deutlich, was ich durchaus im gesamteuropäischen Zusammenhang sehe. Berlin ist wieder das, was es immer war: Ankunftspunkt für Leute aus Osteuropa, Südeuropa, Afrika.

Hier entsteht ein produktives Wirrwarr, wie man etwa kürzlich beim Karneval der Kulturen gesehen hat, als ein riesiger bunter Zug durch Neukölln und Kreuzberg gezogen ist. Von der Berliner Politik wird das allerdings nicht genügend reflektiert. Genau das ist ein wesentliches Problem: Die Politik zerredet das, was sie an Wirklichkeit hat in dieser Stadt. Das wird nur unter dem utilitaristischen Aspekt betrachtet. Statt die ganze Summe der Erscheinungen freudig anzunehmen, fragt man sich gleich: Brauchen wir das eigentlich?

Benennen Sie doch einmal die Konflikte, die sich in der Berliner Kultur als einem „Laboratorium Zukunft“ zuerst andeuten?

Wohlfahrt: Wo sonst außer in Berlin passiert es, daß 40 Jahre DDR-Sozialisation und westdeutsche Sozialisation zusammenkommen? Wo passiert es sonst noch, daß zu diesem wirbelnden Kreis auch Ost- und Westeuropa und Amerika noch dazukommen?

Jähner: Die Berliner Urbanität ist im Augenblick aber ebenso gefährdet wie die aller Großstädte. Durch Separation und Segregation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Deshalb sollten wir uns eigentlich von dem Singular „Kultur“ verabschieden und besser von „Kulturen“ sprechen.

Wohlfahrt: Ja, denn nur das spiegelt wider, daß Kultur speziell in Berlin die Sammlung der Kulturen von Minderheiten ist. Multikulturalismus als Vorstellung, daß die verschiedensten Kulturen zusammenwirken, hat sich ja als Lüge entlarvt. Es ist doch mehr ein Nebeneinander.

Jähner: „Lüge“ ist zu stark. Im Nebeneinander der Kulturen gibt es durchaus eine große Bandbreite von Kommunikationsmöglichkeiten. Die Idee einer unumschränkten Übersetzbarkeit der Vorstellungswelten im Sinne einer multikulturellen, synthetischen Kultur halte ich jedoch für utopisch – und auch gar nicht für wünschenswert.

Es ist doch so: Der primäre soziale Affekt in der Stadt ist der Rückzug auf eigene Identität. Um so wichtiger ist kulturelles Leben, das in der Lage ist, seine Kommunikationsmöglichkeiten auszuschöpfen und die Scheidewände zwischen diesen gesellschaftlichen Gruppen durchlässig zu machen. Und genau das gibt es in Berlin. Die hier lebenden Gruppen haben es bisher immer geschafft, sich einerseits kulturell so zu repräsentieren, daß sie als eigenständig wahrgenommen werden, und andererseits dann doch so offen zu sein, daß ein Austausch mit anderen noch möglich ist. Das genau ist Urbanität.

Können Sie da ein paar Beispiele nennen?

Jähner: Da gehört die Love Parade dazu, an der viele Nicht-Raver teilnehmen oder auch die Oper, die die jüngere Generation in Berlin so früh wie in keiner anderen Stadt ganz normal in Jeans betreten hat. Wenn es solche kulturellen Kontaktaufnahmen nicht gäbe, würde Berlin schneller als andere Städte ins Provinzielle abgleiten, weil hier im sozialen und wirtschaftlichen Bereich keine urbane Tradition besteht. In Hamburg und Lübeck etwa sieht es anders aus, weil es dort ein historisch gewachsenes Selbstbewußtsein der Bürgerschaft gibt.

Wohlfahrt: Meine Forderung an die Politik wäre diesbezüglich, solche Prozesse nicht zu behindern, sondern zu unterstützen. Denken Sie doch nur an das Debakel um die Love Parade, als es plötzlich ein Problem war, wie der Müll beseitigt werden sollte. Gleichzeitig wird ein Berlinbild in die Welt transportiert, demzufolge die Leute hier was losmachen. Eine andere Vokabel für „hauptstädtisch“ ist auch „international“. Und gerade in Berlin gibt es ein riesiges Potential an internationalen Kulturen, die bereits hier sind, und die sich künstlerisch auszudrücken beginnen.

Jähner: Gerade am Punkt der Internationalität ist Berlin im europäischen Vergleich im Rückstand. Und das ist eine Überlebensfrage: Die Fähigkeit, miteinander klarzukommen, sich nicht zurückzuziehen, sich weltweit kompetent und entspannt zu verhalten. Berlinern, und Deutschen überhaupt, fällt das schwer, weil sie wenig nützliche Erfahrung damit haben. Da jetzt noch abzuspecken, wäre fatal.

Wohlfahrt: Aber genau das ist die Gefahr. Denn jede Kürzung zwingt den Veranstalter ja, die teuren Pläne sofort fallenzulassen. Und das ist nun mal der internationale Austausch. In meinem eigenen Haus kann ich für 50.000 Mark eine Woche gute, nichtdeutsche Literatur haben. Aber ich brauche immer mehr Drittmittel, um das überhaupt noch hinzukriegen.

Sie sagten, es gäbe kein kulturelles Selbstverständnis in Berlin. Aber jetzt haben Sie doch einige Punkte benannt. Wo also ist das Problem?

Jähner: Das Problem liegt bei der Politik. Im Moment erleben wir den Abbau des sozialstaatlichen Gedankens und ein ganz naiver Glaube an die Selbstreinigungskräfte der Wirtschaft setzt sich wieder durch. Das wird auch auf die Kultur übertragen, und immer mehr Leute verständigen sich darauf, daß Kultur eigentlich für sich selbst aufkommen müsse. Doch das wäre für die städtische Gesellschaft tödlich.

Wohlfahrt: Wobei auch die Vorstellung, daß sich die Wirtschaft immer stärker in der Kulturfinanzierung engagieren könnte, momentan noch in eine Sackgasse führt. Denn Herr Waigel ist ja an keiner Stelle daran interessiert, daß die Wirtschaft Kultur sponsort, weil die Kultur Sache der Länder ist und die Wirtschaft dann Landeseinrichtungen sponsort und ihm Steuergelder entzogen werden. Juristisch und gesetzlich muß man hier umdenken. Ich persönlich favorisiere zunehmend ein Stiftungsmodell. An einer Stiftung können sich Staat und Wirtschaft beteiligen und eine unabhängige Jury ermöglichte ein projektbezogenes Arbeiten.

Jähner: Dabei sollte Einverständnis darüber herrschen, daß das Leistungsprinzip in der Kulturförderung auch gilt. Einrichtungen müssen mit ihrem Geld nachweisbar erfolgreich arbeiten.

Das ist eine heikle Sache. Wer soll das auf welcher Grundlage überprüfen?

Jähner: Deshalb appelliere ich ja so an die offensive Diskussion. Es müssen Erfolgskriterien aufgestellt werden. Es kann nicht nur um den Umsatz an der Kasse gehen, sondern inhaltliche Impulse sind ausschlaggebend. Und die können nur erkannt werden, wenn es ein grundlegendes Selbstverständnis über die Rolle der Kultur in Berlin gibt. Und ein erster Schritt in diese Richtung wäre eben, wenn in Berlin akzeptiert würde, daß Kultur hier mehr als in anderen deutschen Städten als Plural zu verstehen ist — und weit über das hinausgeht, was im Rat für die Künste vertreten ist. Und das ist eine enorme Qualität, die den Metropolengedanken noch am ehesten rechtfertigt. Interview: Petra Kohse